Sarah Kuratle
Vor acht oder in einhundert Jahren
Roman
Die Arbeit am Roman und die Drucklegung wurden gefördert von den Kulturabteilungen der Stadt Wien (Literatur), des Landes Oberösterreich, Stadt und Land Salzburg und dem Bundeskanzleramt.
www.omvs.at
ISBN 978-3-7013-1288-7
eISBN 978-3-7013-6288-2
© 2021 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: BUCH THEISS GmbH, A-9431 St. Stefan
Covergestaltung: Leopold Fellinger
Für Joshua
Reise ins Gebirge
Winter der Apfelernte
Vor acht Jahren
Erster Herbst nach der Apfelernte
Zweiter Frühling nach der Apfelernte
Vor acht Jahren
Dritter Winter nach der Apfelernte
Vierter Sommer nach der Apfelernte
Vor acht Jahren
Fünfter Frühling nach der Apfelernte
Sechster Herbst nach der Apfelernte
Vor acht Jahren
Siebter Sommer nach der Apfelernte
Reise aus dem Gebirge
Herbst der Apfelernte
Ihre Hand. Schmal ist sie, stark ihr Druck. Finger, die seine Finger umarmen, seinen Handrücken aufrichten, während Schnee die Stufen des Zuges befällt, leuchtend liegen bleibt. Das Gesicht der Frau, die jetzt mit ihrer zweiten Hand an seinem Unterarm herauffährt, treffen einzelne Flocken, verfangen sich oder zerlaufen zwischen Haut und Haaren länger als schulterlang. Gestützt tritt Cornelio ins Freie hinab, findet unter seinen Sohlen zuerst weichen, dann harten Grund. Es kommt ihm so vor, als ob sich die Frau in einer Weise selbst Halt gibt, mit dieser Hand, dem immer noch festen Griff. Sachte löst er ihre Finger, danke , sagt er, das war, danke für Ihre Hilfe . Leise, gern , Schnee auf ihren Lippen, keine Worte mehr, von überall her sich verdichtendes Gestöber, sprühender Winter.
Im kleinen Warteraum des Bahnhofs zählt ihm eine einsam tickende Wanduhr die Zeit im Stillen vor. Durch an ihren Rändern glanzvoll beschlagene Fenster sieht er die Frau draußen zuerst Stirn gegen Sturm, dann wieder in die andere Richtung gepeitscht, wird sie sogar langsamer. Sie ist sehr schmal und blass, wie in den Mantel gefallen, kam sie ihm vor, als sie seine Hand und seinen Arm hielt. Sie trägt keine Mütze am Kopf, warum lässt sie ihren grauen Schal flattern, ihre Haare wild in der Luft.
Ein paar Jahre ist es her, unter einer hohlen Bettdecke schwer, schlief er wirklich. Greta lag wach einen Winternachthimmel lang, so groß wie das Fenster, das sie mit ihren Blicken durchs Dunkle abtastete. Immer wieder drückte sie ihre Stirn auf die harten Knie, die Fersen an ihre Schenkel, wie zur Schale, eine harte Nuss , wird sie heute noch genannt. Streckte sie ihren Arm aus, berührte sie Jannis am Schulterblatt, es hob und senkte sich wie über Wellen, unruhiges Träumen. Seine Locken schienen ihr ohne Licht zu glänzen, aber an mir, was ist gold an mir, schau mich an , fragte sie am Morgen. Was ist nicht gold an dir und uns , seine Antwort, erschrocken, auf einmal blass. Jannis, du verklärst alles .
Der Wind scheucht den Schnee auf, verweht ihn über die Zugstrecke zwischen Stadt und Gebirge. Ab dem Punkt, wo die alten Gleise tief begraben liegen, übersetzt der alte Postbus zwischen Bergen den Landstrich. An seiner Windschutzscheibe haften blinde Flecken, ein schwarzgrauer Schwarm. Die Vögel sollten besser landen, sich an die Bäume halten. Schnell fährt der Busfahrer, als stimmte er seine Fahrt auf klare Sicht ab, wie es sie vielleicht gestern gab oder an anderen Tagen. Ob es der Bus bis ins letzte Dorf im Gebirge schafft, so oder so würde es spät, bis Greta heimkäme. Trotz Rückenweh wird Tante Severine allein mit Flora den Stall machen. Die kleine Melina kann die Schafe und Ziegen zwar schon melken, läuft aber lieber zum weißen Esel Gian, eine Hand voll Heu, versteckte Blätter, ihren Ring von der Straße, ist das Gold, Greta, der Ring . Sie nickte, es ist Gold wert, darauf kommt es an . Im nächsten Jahr wird Greta dem Mädchen zeigen, wie sie das geschnittene Gras zusammenrecht, Heumännchen formt, wie sie mit Gänseblümchen Ringe anstecken, Margeriten fröhlich um das Kreuz an ihrer Kette binden kann. Das gefällt Tante Severine, glaub mir , in der Schule werde sie auch auffallen. Das tue ich sowieso, Greta .
Zwei Tage weg vom Hof und Greta vermisst den Geruch von der Backstube, den frischen Broten, einem Butterzopf, den sie heimlich in schwarzen Kaffee tunkt, wenn sie keines der Kinder beobachtet. Schmatzend und schlürfend genießt sie dann die vollgesaugten Brocken im Mund. Wie das aussieht, Greta , beschwert sich Tante Severine manchmal. Sie sieht aus wie Jannis beim Frühstück. Jannis, ich fahre schon heute , er sagte nichts, damals, vor Jahren, lieh ihr für den Weg zum Bahnhof einen Schirm, den Greta nie mehr zurückgab. Selten regnet es in den Bergen, aber es regnet so stark wie sonst nirgends , betonen Flora und Melina jedes Mal stolz, wie sonst nirgends , mit Kapuzen und Stiefeln in den grauen Pfützen. Greta selbst unter Jannis’ altem Schirm, ihre Haare so nass, als stünde sie auf dem Kopf, unten ein See Regentropfen. Wie Jannis beim Frühstück sehe ich aus, darum konnte ich ihn ja nicht heiraten, es grauste mir selbst . Darauf Tante Severine, Gott sei Dank, ich brauche dich , bei den Mädchen, am Hof, in der Backstube. Nach acht Jahren trägt der Apfelbaum diesen Winter wieder Früchte, im Garten all die goldenen Kugeln, könnten sie sich den Weihnachtsschmuck eigentlich sparen. Im Frühling hatte Tante Severine eine Flasche um eine Blüte am Baum gestülpt, für die Zierfrucht im Schnaps , sonst seien die goldenen Äpfel ja giftig wie Vogelbeeren. Außer die Apfelkerne, die schmeckten Melina und mir sehr , widersprach Flora. Vor acht Jahren stibitzten die zwei Mädchen ein paar Kerne aus dem Gärfass, sie hatten Glück, es war ein Wunder , erklärt es sich Tante Severine.
Zwei Reihen vor Greta sitzt der Mann mit dem Verband im Bus, angeschnallt, auf dem Kopf einen Hut, ein zweiter hängt von seinem Koffer, ein dritter an seiner Lehne. Verziert sind sie alle mit bunten Federn, es fehlen die Schneckenhäuser, überlegt Greta bei sich, die Luchsohrpinsel, die getrockneten Bienen, das richtige Gefieder, dann wäre es ein wundersamer Hut, vielleicht. Eindrucksvoll mit Hut gleicht der Mann den Erstgeborenen im letzten Dorf im Gebirge. Als er sich zu Greta umdreht, trifft sie zwischen den Sitzen auf seinen schüchternen Blick.
Wo Stahlräder feststecken, drehen in Ketten gelegte Reifen durch. Gesunde Füße könnten vielleicht noch weiterstapfen, überlegt Cornelio. Über den großen Berg aber kämen selbst sie spät, frühestens am nächsten Morgen. Alle auf der Reise bleiben im ersten Dorf im Gebirge. Dort gibt es ein Gasthaus, sie könnten übernachten dort. Morgen oder übermorgen sei die Gebirgsstraße sicher frei.
An den Gesichtern der anderen glaubt Cornelio Selbstvorwürfe, Hunger abzulesen, es war nicht anders zu erwarten, auf dieser Strecke, bei dem Wetter , murmelt er, da wäre er besser nicht aufgebrochen. Niemand, keine Menschenseele erwartet ihn im Gebirge. Die junge Frau vom Bahnsteig stößt ihn mit dem Ellbogen an, haben Sie Brot gegessen . Cornelio nickt, einen Wecken aus meinem Rucksack. Wahrscheinlich habe ich meine Kleider voller Mehl , er zieht den Hut. Sie mustert ihn, schwer zu sagen bei Nacht, ob nicht auch die Haare , zu seiner Verwunderung streicht sie ihm über den Kopf. Nein, bloß Schnee, natürlich , wie einem Kind, dem Fransen ins Gesicht hängen, von vorne nach hinten, seitlich am Ohr hinab streicht ihre Hand. Aber Sie riechen nach Brot , das rieche sie, wie es andere auf der Zunge schmecken.
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