Im Dorfladen besorgt Greta noch Hefe und Nüsse, sie wird am Nachmittag Brot backen mit Flora. Mit Melina, die die Nüsse bitter findet, ist es meistens zäh. Schon wieder , wird sie jammern. Fang endlich an, mehr zu probieren , Tante Severines Antwort. Das komme davon, den Kindern von klein auf Lebkuchen zu geben, sie selbst bekam nie Lebkuchen, bloß ihr älterer Bruder, Gretas Großvater, der Erstgeborene in der Familie. Wie lange denn noch , Melinas kleine Finger in der Teigschüssel, dann an ihrem Mund. Bis nichts mehr klebt, aber sonst knete halt ich fertig oder Flora .
Vor acht oder in einhundert Jahren, es wäre nicht viel anders, der Sonneneinfall am 21. Dezember zwischen See, Bergrücken und Wäldchen ein schmaler Streifen, auf dem das kleine Haus sitzt, da ist es , sagt Cornelio zum Fahrer. Im Kalender fängt der Winter an, fängt die Nacht an zu weichen, Schnee zu härten, viele Wassertropfen in der Luft, an den Zweigen. Kalter Nebel um den See vereist, unzählige Nadeln rieseln leise, letzte Blätter, die am Boden brechen, bizarr , murmelt er in Erinnerung an laute Schritte inmitten von Raureif, bizarr, finden Sie nicht auch, bizarr ist das richtige Wort dafür . Der Fahrer nickt, wird schon so sein . So, nicht viel anders, ob vor acht oder in einhundert Jahren.
Mit einem der letzten Zündhölzer macht Cornelio die Kerze am Tisch, rasch noch die Zeitung zwischen Holzscheiten im Ofen an. Zwei Fingernägel an den Spitzen angesengt, war er zu langsam, das wird ihm wieder passieren, immer wieder, bis sein Bein verheilt ist. Im Winter gefallen ihm zwei Sorten Tee gemischt, heute ein Lindenblütensäckchen und ein Teeei mit Minze, von Frühling bis Herbst wild wuchernd. An Nägeln in der Wand hängen schon die Hüte und Kappen befiedert, darunter ein Hut mit knittriger Krempe aus Stroh. Sein Vater sammelte Hüte, mit ihnen seine Erfahrungen, was ich nicht unter einen Hut bringe, nehme ich auf die Kappe , sagte er oft, und dass nichts so sehr beeindrucke wie ein Hut.
Eine Kruste aus Reif überzieht ihren Umweg durch den Nebel. Auf dem Häuschen mit dem Mantel aus moosigen, teils fauligen Schindeln liegt ein bisschen Sonne, Licht. An den Fenstern rissige Vorhänge, hinter die Flora und Melina einmal schauen wollten, bitte, bitte. Von mir aus , erlaubte es Greta, es wohnt ja niemand mehr im Haus. Dann schaut halt nach . Melina lief als Erste zu Greta zurück, ihren Mund offen vor Schreck.
Auf einmal taucht jetzt ein Hut hinterm Fensterglas, jemand auf den sonst so verlassenen Brettern auf, eigentlich fast verlassen, wir sahen eine Maus , es war ein Siebenschläfer, besserte Flora ihre kleine Schwester aus. Angestrengt will Greta das Gesicht unter der Hutkrempe ausmachen, wie damals die Kinder die Grundstücksgrenze überschreiten. Wie sie selbst, als sie allein die Holzleiter aus dem Garten an die Schindeln lehnte, durchs Glas auf getrocknete Blumen, ein Kleid mottenzerfressen im offenen Kasten starrte. Sie winkt und derjenige hinter Glas zieht den Hut, winkt zurück. Unter der letzten Straßenlaterne im Dorf vor der Tür des Häuschens erkennt sie den Mann vom Zug, Sie wohnen ja wirklich am Dorfrand, dann sind wir wohl Nachbarn jetzt .
Es ist ein Versteck , wohin sie sich aufgemacht habe, er könne mitkommen, kommen Sie ruhig mit . Dann schaut Greta nachdenklich auf seinen Verband. Mit den Krücken kann ich gut gehen, über Stock und Stein , versichert er. Ob er seinen Fotoapparat mitnehmen dürfe, es sei ja immerhin ein Versteck. Aber kein Geheimnis, nehmen Sie ihn ruhig mit. Können wir uns eigentlich Du sagen, ich heiße Greta. Cornelio, also mit ganzem Namen heißt du Margareta. Nein, bloß Greta . Ehe sie weg vom Kiesweg laufen, geben sich die Mädchen immer Küsschen mit ihren Nasen, weil es doch ein Versteck ist . Wer die Losung kennt, darf dem Steinmännchenweg folgen, hatte Greta festgelegt. Für einen Moment überlegt sie, ob sie ihren neuen Nachbarn einweihen oder ihn doch nicht mitnehmen sollte. Dann schüttelt sie den Kopf und hakt sich bei ihm ein, Sie, also du brauchst mich jetzt, Cornelio, glaub mir, aber eine Krücke ist genug . An ihrer Seite vorbei an dem Strommast, der mit seinen Verbündeten silbergrau die Landschaft durchschneidet, fotografiert Cornelio die Rinde der ersten großen Bäume, ein bisschen rötlich, wie angerostet , stellt er fest. Im Winter in diesem immer dämmrigen Stück Gras und Wald seien Hell und Dunkel sowieso wichtiger als die Farben, das sei im Dorf nicht viel anders, darum bloß mit Bleistift, magst du es trotzdem , fragte Melina einmal. Greta gefiel diese Zeichnung wie jede des Mädchens, nicht bloß grau fände ich trotzdem schön , woraufhin Melina die Baumstämme rot schraffierte.
Als sie nach ein paar Metern zwischen Bäumen krachend auf die bereifte Wiese kommen, geht der neue Nachbar einen Schritt vor ihr trotz Verband auf die Knie. Durchs Viereck, das Cornelios Kopf, seine Schulter, Ober- und Unterarm aufspannen, schaut sie, indem sie ihren eigenen Oberkörper nach vorne lehnt, gleichsam unter seinem Blickwinkel auf den schönsten Platz der Welt. Eine alte Fichte gibt dem Holzbänkchen Rückendeckung, um es herum ragen Reste Schilf, das nicht abgeschnitten wurde, weiße Eisbärte tragende Rohre höher als Kinder, Erwachsene, Greta. Unter den Latten vertrocknet graues Stroh.
Mit seinen bloßen Fingern möchte er die breite Sitzfläche bis zur Lehne hinauf abschaben. Das bringt nichts , hält ihn die Nachbarin ab, breitet ihren grauen Schal auf der Bank aus, für ein paar Minuten ist das genug, bloß nicht zurücklehnen . Genau in die Mitte setzt sie sich, vielleicht weil sie häufig allein herkommt. Es gab Pläne, da eine Straße zu bauen oder Schienen zu verlegen . Cornelio wundert sich, das Bänkchen gefällt mir sehr, wirklich, so geschwungen. Aber ich scheitere, mir an diesem Ort einen Zug vorzustellen , fügt er hinzu. Nach einem Räuspern sagt sie, weißt du, ich male mir manchmal einen Zug aus , wie gestern am Bahnhof geht sie jetzt vor der Bank auf und ab, manchmal warte ich hartnäckig darauf, dass jemand ankommt , sie seufzt, wieder lässt sie sich auf die Bank fallen, jetzt aber am Rand. In der Mitte zwischen ihnen beiden ein freier Platz.
Schweigsam sitzen sie auf dem Schal, die Füße im Schnee, im Rücken den Wald so nah, dass er an einem Baumstamm seinen Kopf anlehnen könnte. Alles an mir , murmelt er lautlos, fühlt sich so schwer an. Mein Kopf, meine Schultern, meine Arme und Beine , sie hängen herab, als fielen sie mit dem Schnee langsam auf den Grund. Scheinbar leicht in der Luft, kommt Cornelio vor, verbinden sich die vielen Schneeflocken zu Stricken, binden dann seinen Körper an eine Erde fest, die ihm nicht vertraut ist. Ein Leben lang war er zu leicht. Es rührte sich nicht viel, solange er sich nicht bemühte, waren seine Berührungen ohne Druck, selbst seine Worte ohne Gewicht. Bis er von einem Apfelbaum fiel, ein Biss vom Apfel wog schwer wie Gold im Mund.
Was von den Tagen bei Jannis erwarten, wusste sie selbst nicht. Unendlich viel Schnee , schrieb er ihr vor Jahren, die Stadt gleichsam bloß für sie beide, so richten wir es uns ein . Als Greta in die Bahnhofshalle einfuhr, sah sie ihn auf einer erhöhten Bank warten. Ich musste einen späteren Zug nehmen und konnte dir nicht mehr Bescheid geben. Bist du denn die ganze Zeit über draußen gesessen , Schuhe, Hose, Mantel voller Schnee, den es zu ihm unters Vordach geweht haben musste. Jannis zuckte mit den Schultern, es geht mir nicht wie den Kutschern, sie fahren den ganzen Tag über im Schneefall , er klopfte die Flocken von seinen Kleidern, das ist nicht viel . Während sie noch nickte, kam sie ihm näher, bis sich endlich ihre Nasen berührten, aus dem Nicken ein Wippen wurde, ein Schaukeln ihrer Köpfe, bis die harte Kälte abfiel wie eine zweite Haut.
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