Ihre Spieluhr unterm Arm eingeklemmt, geht Melina mit den zwei schwarzgrauen Eseln rechts und links, Cornelio führt trotz Krücken den weißen Esel Gian an einem Strick auf die Weide. Gib Acht , ruft Flora dem neuen Nachbarn zu, streich ihm nicht über die Ohren, sie sind wund, er reibt sich an den Ohren immer auf . Der weiße Esel sei sehr alt schon, vor Jahren erblindet, sagt Flora, ohne sich selbst vorzustellen, seitdem geht Gian mit den Ziegen und Schafen, sie zeigen ihm die besten Flecken zum Grasen, die Krippe, wo wir sie mit Heu versorgen. Die zwei Eselinnen, seine eigenen Kinder sind es, lassen ihn nicht mehr zu sich. Aber unsere Ziegen, sie schauen gut auf ihn .
Von Greta mit einem Schneeball eiskalt erwischt, stellt Melina die Spieluhr endlich ab, zieht die Mütze über ihre Ohren wie einen Schutzschirm. Über ein paar Schafsköpfe trifft es einmal noch Flora, zweimal Cornelio, dann den alten Gian zwischen den Ziegen. Verzeih mir, alter Gian , Melina klopft dem Esel auf den Rücken, mit frischem Schnee entlang der Wirbelsäule wieder fast so weiß wie früher.
Den kleinen Buben im rechten Arm, öffnet Tante Severine mit der linken Hand das Gatter, lässt zwei Kitze auf die Weide springen. In ein paar Jahren lassen sie sie zwischen Felsen frei, höher als das Dorf, hoch oben im Gebirge. Sie hüpfen jetzt zu ihrer Amme, ihrer Ziehmutter, und zerren an den Zitzen mit Milch. Die fremden Kitze nahm die Ziege an, als wären sie die eigenen. Wären sie Hausziegen wie sie, wären sie schon ganz richtig, am rechten Ort. Das Apfelbrot, das Sie uns gebracht haben. Es ist jetzt weich , Tante Severine mustert Cornelios Gesicht, fast schon zu weich für meinen Geschmack , als er, Schnee im Nacken, neben ihr steht. Ich frage mich, was wir Ihnen schulden . Verwundert schüttelt er den Kopf, natürlich nichts , Schnee rieselt ihm den Rücken hinab, ein kalter Schauer, das war ein Gastgeschenk . Beschämt mischt sich Greta ein, weißt du, Cornelio, wir kriegen eigentlich nie solche Geschenke. Also Brot oder Kuchen, wir backen das alles selbst und verkaufen es im Dorf. Bis jetzt hatten wir niemanden als Nachbarn , sehr selten komme jemand vorbei. Gott sei Dank selten , murmelt Tante Severine so leise, dass es Gott sei Dank bloß Greta hört.
Zusammen mit Melina begleitet Greta den Nachbarn noch ein Stück des zugefrorenen Weges. Es sei eigentlich nicht gut so für ihn mit seinem Bein, ganz allein. Er winkt ab, das Alleinsein macht mir keine Angst , nicht einmal jetzt, nicht einmal so, aber , er zwinkert Melina zu, die Krücken müsst ihr mir schon lassen . Obwohl in jeder Stirnreihe die Kleinste, schafft es Melina auf Zehenspitzen, die Arme hochgestreckt, dem Nachbarn ihre Spieluhr ans Ohr zu halten. Cornelio lächelt, ist es ein Winterlied, singt ihr es auch manchmal . Melina nickt, draußen im Obstgarten, unterm Apfelbaum , damit Flora auch mitsingt, es ist ein Jahreszeitenlied , es sei vier Strophen lang, wie ein Jahr. Die Spieluhr habe Greta Melina an Weihnachten geschenkt, es war zugleich ihr Geburtstagsgeschenk. Ohne Rauschen kein Radio in den Bergen , Cornelio werde schon noch sehen, wie anders es ist als in der Stadt. Warum sie glauben, dass er, dass ich ein Städter bin . Greta hebt die Brauen, das sehen wir, du klebst dir einen Bart auf . Wieder Melina, im Dorf wachsen Bärte brustlang oder länger .
Wo der Schotter in löchrigen Asphalt übergeht, biegt Greta auf den Weg in den Wald ab, bittet Melina, richte bitte Tante Severine aus, dass ich im Dorf noch Zimt besorge . Verborgen ist das Bänkchen, die Zeit dort, außer für die Mädchen, den Nachbarn, Greta. Melina spaziert ein weiteres Stück weit mit Cornelio, umarmt ihn zum Abschied, wie Greta ein kurzer Blick über die Schulter verrät. Wie oft, wenn sie sich freut, wackelt das Mädchen mit den Ellbogen, die Unterarme an ihre Brust geklemmt. Es gibt wenige, so gut wie keine Männer in ihrem Leben, keinen Vater, Onkel. So hat es auch sein Gutes , ist Tante Severine überzeugt, bei dir war es doch ganz gleich . Anders war es, es gab Jannis.
An das Bänkchen gelehnt, merkt Greta, wie ihre Lider schwer werden. Natürlich kommt Jannis nicht. Warum wartet, erwarte sie, dass er dasitzt, verschneit, wenn sie kommt. Ihre Finger in den Schnee bis zu den Holzlatten getaucht, öffnet Greta ihre Augen. Rauch in der Luft wie von einer Dampflok, einer Reise von dort nach da, da wären sie, Greta und Jannis, Jannis und Greta. Vom Himmel auf den Grund segelt sie mit Blicken einer Feder nach, hebt sie hoch, ehe sie schwer landet. Ihre Zweige mehr um einen Mittelpunkt als um eine Achse angeordnet, erinnert die Feder an einen Blumenkopf. Die Blüten, stellt sich Greta vor, machten sich gut auf dem Hut des Nachbarn. Sorgfältig heftet sie sich die Feder hinters Ohr, an die Stelle, wo Jannis vor Jahren, Jannis, was machst du da . Er lege Küsse für sie für später bereit, erklärte er, wenn wir erwachsen sind, uns nicht mehr jeden Tag sehen . Ob er wisse, wie sich das anfühle. Wie Käfer, kleine Käfer überall, fühlt sich das an, oder .
Wenn es anfängt zu schneien, zum ersten Mal im Jahr, empfinden die Flocken die Formen der Gräser und Steine nach. Annähernd so gründlich wie der Reif, der vom Größten bis ins Kleinste alles nachzieht, von allen Seiten, Spitzen und Kanten verhärtet. Wenn viel, lange und länger Schnee fällt, sind Steine und Gräser irgendwann überformt, sammelt, zeichnet die Wiese alle Stapfen überdeutlich aus. Von Cornelios Haus, dem alten Mooshäuschen, wo es in den Zimmern dunkel ist, führt im Licht der letzten Straßenlaterne eine frische Spur zum Schloss. Zögerlich schlüpft Greta in die Abdrücke der Stiefel. Gesäumt von Löchern, wohl von Krücken, wandert sie den steilen Hügel hinauf. Niemals mit Schlüssel verschlossen steht das Tor in den Schlossgarten einen Spalt weit offen, ein Stück weiter als sonst.
Also ich schaute mich bloß um , erklärt sich Cornelio, auf die Steinmauer gestützt, ein bisschen heiser. Seinen Arm, sein Bein streifend bückt sich Greta hinab, schaut, wo ein großer Stein fehlt, hinaus zum See, weißt du, der Schlossherr starb vor einer Weile, sowieso war er nie da. Früher verbrachte seine Frau mit ihrem Kind im Gebirge den Winter, und ein paar Tage im Frühling und Herbst war sie allein da . Die Fensterläden auf der Ostseite seien, einer nach dem anderen, aufgeflogen, am Abend, sagte mir Tante Severine, habe lange das Licht in vielen Zimmern gebrannt . Cornelio lächelt, hell bis spät in die Nacht, bis zum Morgen, das leuchtet ihm ein. Ob die Frau bei Licht geschlafen hat, wer weiß, vielleicht hatte ja ihr Kind Angst im Dunkeln oder sie selbst , fährt Greta fort, ohne sich zu Cornelio umzudrehen. Niemals sei es finster gewesen, als Tante Severine vom Hof wie zum vollen Mond hinaufschaute, nie, ganz gleich, wie spät oder wie früh, sei es hell im Schloss gewesen.
Dichter werdende Vorhänge aus Schneeflocken ziehen sich über ihren Köpfen zu. Greta löst ihre kalte Wange vom Stein, kommt mit weißen Schulterpolstern wieder in Augenhöhe, wir müssen unters Dach . Verfroren stimmt Cornelio zu, geht voraus. Sie hält ihn zurück, nicht bloß unters Vordach, dort findet uns der Wind , einmal in den Bergen, schaffe er es durch alle Spalten, in jeden Ritz, überallhin, wie Wasser , Schnee. An Orten, wo die Sonne Wochen, Monate lang nicht hinlangt, einen ganzen Winter lang nicht, rüttle der Wind im Gebirge.
Seine Locken wie wehende Wipfel in aller Herren Lüfte, sein Bart wie ein totes Blatt verweht, fragt er, sag, welches Dach meinst du . Mit den Krücken zeichnet Cornelio wie in einem weißen Meer Wellen im Wind von überallher. Ob er über seinem Kopf, schau , mit Vögeln bemalte Fensterläden sehe, unterhalb ein Spalierobstgerüst, es sei aus Metall, wohl zur Zierde, für uns ist es eine Leiter jetzt. Hinter den Läden gibt es keine Fenster, fast wie in deinem Mooshäuschen . Greta schüttelt den Schnee von ihren Kleidern, zerdrückt ihn auf ihrer Nasenspitze, jetzt bin ich, glaube ich, leicht genug , die Sprossen hochzuklettern fällt ihr gar nicht mehr schwer. Ihren Arm mit kalter Luft von oben zwängt sie unter die Fensterläden, da ist ein Haken, gleich habe ich ihn . Zwitschernd schwingen die Vogelläden auf.
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