Jeder tote Vogel, Frosch oder Igel verlangt ein Gebet , aus Mitgefühl, glaubt Gretas Mutter, aus Respekt. Manchmal kauft sie am Freitag am Wochenmarkt alle Flusskrebse aus den Kübeln, lässt sie im wilden Gebirgsbach frei. An einer Engstelle ein paar Meter weiter wartet der Koch vom Dorfgasthaus, er weiß gut, Freitag ist ein guter Tag, ein Fangtag. Greta weiß es auch, schau, dass du wegkommst , aber es bringt nichts. Auch hat es keinen Wert, Mutter abzubringen. Siehst du, Greta, die Krebse freuen sich. Wie kann ich das sehen , erwiderte Greta, ich bin ja kein Flusskrebs und du auch nicht . Mutter spazierte ein paar Schritte am Ufer, ich weiß es , zitierte sie ihr Lieblingsbuch, aus der Freude, mit der ich am Bach entlangwandere .
Sorgfältig putzt Greta ihre Schuhe an der Fußmatte ab, ihren Traum, den sie Mutter nicht erzählen wird, er haftet noch am ganzen Körper. Auf der Schwelle steht ein Teller Essensreste, für Häuschenschnecken, sie schützen das Haus. Mutter nimmt sie an der Hand, ihr habt lange gebraucht, du und Jannis. Geht es unseren Ziegen gut und Jannis’ Schafen, und auch der Schafsmutter mit den vielen Lämmern . Greta nickt, weißt du, die leibliche Mutter ist ja gestorben, ein anderes Schaf hat die vier Lämmer angenommen . Welche sei jetzt eigentlich die richtige Mutter. Beide sind es . Es gibt Omelett mit Käse und Schnittlauch, nach dem Rezept einer Tante, deiner Großtante Severine , sie würde darauf bestehen, dass Greta sie „Tante“ nennt. Greta schaut auf, wie war sie damals, als ihr zu zweit am Hof gelebt habt, wart ihr wie wir zwei. Sehr streng zu mir als Kind , fängt Mutter an zu erzählen, offene, wilde Haare seien Tante Severine Dornen im Auge gewesen, „ ich sehe, du hast wieder deinen Haarreifen verloren, Mädchen, oder gibt es so etwas heute nicht mehr“, sagte sie dann immer, und „ schau mir in die Augen, wenn du mit mir redest“. Da wären wir wieder bei den Haaren . Mutter schiebt Greta eine dünne Strähne hinters Ohr, erzähl, was gibt es bei dir . Greta kann ihrem Blick nicht mehr ausweichen, sie möchte, ich möchte mit der Schule aufhören . Sie möchte, ich möchte eine Lehre machen, ein Parfüm erfinden , ein Parfüm für Mutter, denkt sie bei sich. Sag nicht , Greta lässt die Strähne zurück ins Gesicht fallen, das hat keinen Nutzen, das ist bloß Gestrüpp in meinem Kopf. Ich wünsche mir das ganz fest, meine Nase ist so fein, ich rieche alles so gut, das weißt du .
Mit der Kerze leuchtet Mutter durchs offene Fenster hinaus in den Garten, du weißt, Greta, mir gefällt Gestrüpp . Schon Jahre habe der Rosenstrauch draußen kaum Blüten, keine Hagebutten mehr, vielleicht nächsten Herbst, rotes Leuchten, süße Marmelade mit Apfelmost. Und wenn nicht, nie mehr , sie zuckt mit den Schultern, braucht es uns auch nicht zu bekümmern. Seine Blätter sind jedenfalls eine Zierde .
Also, in vier Wochen sind Heuferien, in acht Wochen ist mein letzter Schultag , Greta zwickt Jannis in den Arm, was sagst du, sag etwas, Jannis . Er bückt sich, liest vom erdigen Boden vor der Schule einen Stein auf, befühlt ihn, ob er an allen Seiten abgeschliffen, ist er auch wirklich rundum glatt. Dann sackt er ihn ein, in seinem Rucksack schon so viel, wie viel denn noch, Jannis. Es kann nie genug sein . Auf dem großen Küchentisch daheim werde er am Nachmittag die Steine, die gepflückten Frühlingsblumen in bunten Reihen auflegen. Einzig die Käfer, sie halten nicht still, einfrieren müsste ich sie, so behielten sie auch ihre Farbe , murmelt Jannis vor sich hin. Manchmal hat Greta das Gefühl, als sei er tief im Gespräch versunken, aber nicht mit mir , mit allem rundherum, Blättern, Steinen, mit allem, was nichts fragt. Es heißt, der erste Kuss tut eine neue Welt auf , ob ihm denn kein Mädchen in der Klasse gefalle, ich glaube, nein, ich weiß, es kitzelt beim ersten Mal ein bisschen . Jannis stutzt, gehst du dann weg, Greta, nach den acht Wochen, also weg aus dem Dorf . Sie schüttelt den Kopf, wir müssen zuerst sparen, es kostet viel, die Ausbildung, allein schon die Reise zu den Lavendelfeldern. Die nächsten paar Jahre arbeite ich bei Mutter in der Bäckerei, das ist auch eine Geruchslehre und viel mehr . Jannis stellt seinen Rucksack voller Steine auf den Boden, lächelt, ich freue mich auf den Lebkuchen von dir . Ein Hexenhäuschen im Schaufenster an Weihnachten stelle er sich vor, er würde alle Münzen vom Jahr zusammenkratzen, am Ladentisch jede einzelne aus seiner Geldbörse herauszählen. Als wären sie Gold wert, das wären sie ja wirklich . Alle Münzen zusammen und mehr, überlegt Greta, bedeuten endlich einen Geruch für Mutter.
Auf dem Weg zum Badeweiher erspähen Greta und Jannis den Kuhhirten, schon wieder der . Wo dem Weiher der Bach ins Dorf entwischt, baut der junge Mann einen Damm, aus Steinen viele Male so groß wie der wunderliche Haufen in Jannis’ Rucksack, und viel schwerer noch. Mit einem Anlauf bloß schafft es Greta nach zwei Sprüngen auf die höchste Stelle in der Mitte, wie eine Steingeiß, da sagt ihr nichts mehr , ihre Arme hat sie stolz in die Seiten gestützt. Seinen Ellbogen am Felsen vernarbt, den Kopf in seine Hand gelegt, nickt der Kuhhirte, ich bin beeindruckt .
Ein paar Ecken weiter, beziehen Greta und Jannis ihren Strandfleck, immer frei, manchmal unter Wasser. Ihnen beiden ist ein schmaler Streifen breit genug. Ob sie sich mitten da in der Sonne umziehen müsse, fragt Jannis, wir sind heute nicht allein , er zeigt zum Damm, versucht Greta an ihrem Arm hinter ein paar schattige Bäume zu ziehen. Mir ist das gleich, Jannis , sie zieht ihre weiße Unterhose aus, schlüpft dann in ihr grün getupftes Badekleid, er kann mir nichts wegschauen. Ich mag mich nicht verstecken, du ziehst dich ja auch überall um und ich mich früher auch. Eigentlich , sie streift die schmalen Träger über ihre Schultern, den ausgebleichten Stoff bis zu ihren Knöcheln ab, steigt hinaus ins Wasser, eigentlich mag ich auch nackt schwimmen , und wirft ihr Badekleid in den staubigen Kies.
Ist es so, weil es noch kalt ist im Frühlingswasser, sind Jannis’ Lippen deshalb so, ein Anstrich Brombeer auf Ober- und Unterlippe ein Schimmern, blau, violett, sie gefallen mir so, Jannis . Was er nicht gern hört, ich bin kein Mädchen, Greta , er taucht tief unter. Jannis, was soll das heißen . Er schwimmt ans Ufer. Was haben Brombeerlippen damit zu tun , ruft sie ihm nach.
Die Bewegungen ihrer Beine scheinen Greta unter Wasser wunderlich abgerundet, fließend, kräftig, als hätte sie die Last des Winters auf ihren abgetauchten Schultern, auf Zehenspitzen, die gegengleich zwischen Luft und See pendeln. Ihre Arme kreisen neben und unter ihrer Brust. Mit offenen Augen mustert sie die langen Lichtstrahlen unter der Oberfläche wie riesige Seesterne, blickdurchlässig, selbst Licht. Greta verschließt die Augen, nimmt wahr, wie sich die Strahlen wie Fühler an ihre Haut heften, in ihren Haaren verhaken. Wie sie innen an den Beinen entlangfahren wie warme Schauer vom Grund an die Oberfläche, gegen die Schwerkraft.
Eine Hand zieht sie an die Stelle, wo sich See und kälteres Grundwasser vermischen, Nebel aufsteigt, kalkweiß, weiß wie ein Leintuch. Ich zeig dir etwas , er zieht sie weiter ins seichte Wasser, einen Winkel bloß, uneinsichtig. Sie hält ihn zurück, legt dann ihre Hände auf seine Hände, sie falten ihre Schamlippen auf, lassen ein zwei drei Finger eintauchen. Wirklich, noch ein Finger . Wieder nickt sie, hält sein Handgelenk, das sich mit ihren Hüften bewegt. Dann liegen beide, ihre vier Hände um ihren Bauch sag mir jetzt nicht, dass es weh tun könnte . Er sagt bloß, halt dich fest , später, spann deine Muskeln an .
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