In dieser politisch-strukturell instabilen Lage beruhigt sich das Fahrwasser für Management und Trainer immer nur situativ. Der Klub wirkt getrieben von Machtkämpfen, Gremienpolitik, Einzelinteressen. Christian Gross startet als Coach stark im Dezember 2009, führt den zwischendurch abstiegsbedrohten Klub auf Rang sechs. Doch der Schweizer verstrickt sich in Grabenkämpfe, auch mit den Kontrolleuren. Nach seiner Demission und einem Intermezzo mit Jens Keller hält sich Bruno Labbadia beinahe drei Jahre im Sattel, fast schon eine Ewigkeit. Doch dem Darmstädter und Fredi Bobic als Sportchef werfen die Ansprüche von Fans und Umfeld immer wieder Knüppel zwischen die Beine. Die landläufige Meinung: Der VfB müsste Dritter sein, nicht 13. Auch der Ex-Stürmer muss gehen, im September 2014.
„Ich habe den Eindruck, dem VfB hat zuletzt ein Plan gefehlt, eine Philosophie, in der sich die Fans, die Sponsoren und auch mögliche Investoren hätten wiederfinden können. Deswegen hat der Mannschaft, die zwar über durchaus gute Einzelspieler verfügt, auch die nötige Struktur gefehlt“, wird Dieter Hoeneß, in den 1970ern Torjäger und den 1990ern Manager in Bad Cannstatt, wenig später dem „kicker“ sagen.
Andauernde Vollrotation
Woran könnte diese Inkonstanz wohl liegen? Vielleicht auch daran, dass der einst vom Aufsichtsrat durchgedrückte Mäuser bereits seit 2013 wieder Geschichte ist? Das Personalkarussell, frei nach Ottmar Hitzfeld in einer andauernden Vollrotation, zieht sich wie ein roter Faden durch das Jahrzehnt des Niedergangs. Bereits im Frühjahr ist in lokalen Medien von einer aussichtlosen Lage für Mäuser die Rede, der sich nie von Hundt freigeschwommen habe – wen wundert es angesichts der Umstände seiner Wahl? Im April 2013 kündigt Mäuser an, zum 3. Juni 2013 zurückzutreten, nicht ohne sich in einer persönlichen Erklärung als Opfer der Umstände und speziell der Berichterstattung darzustellen.
Auch Hundt legt sein Amt im Juni nieder, wenngleich der Klub auch ohne ihn in sportlichen Fragen weiter irrlichtert. Mit dem Eigengewächs Thomas Schneider auf der Trainerbank soll nach Labbadia alles besser werden. Man hofft auf eine Wiedergeburt der „jungen Wilden“. Schon im März 2014 ist Schneider passé. „Es wäre der richtige Weg gewesen“, glaubt Hoeneß. „Leider hat die Verantwortlichen der Mut wieder verlassen. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Trainer mehr zu stärken. Philosophie birgt Risiken, ohne sie kann aber wenig wachsen. Das wäre eine Chance gewesen, wieder zu einer eigenen Identität zu finden.“
Unter Stevens gelingt gerade so der Klassenerhalt 2014. Nachfolger Veh scheitert grandios, wieder muss der alte Stevens den VfB retten. Doch danach tut sich eine neue Chance auf, vielleicht die größte der vergangenen Jahre. Sie ist 1,90 Meter groß, schlaksig und in Diskussionen hartnäckig bis anstrengend. Aber fußballerisch höchst erfolgreich, bis hin zum Champions-League-Triumph 2021 mit dem FC Chelsea. Diese Chance heißt Thomas Tuchel. Und wer wären die Verantwortlichen beim VfB, hätten sie sie nicht in traumwandlerischem Dilettantismus vergeigt wie weiland Dieters Bruder Uli seinen Elfmeter in den Nachthimmel von Belgrad?
Verpasste Chance
Ans Licht kommt der Sachverhalt aber erst auf der Mitgliederversammlung im Oktober 2015, und zwar durch den Blogger Christian Prechtl. In einer bemerkenswerten Rede rechnet Prechtl mit den Verantwortlichen ab, speziell den Daimler-Vertretern Wilfried Porth und Schmidt. Letztgenanntem unterstellt er, Tuchel auf beispiellose Art und Weise abgesagt zu haben. Der in der Branche als eigenwillig geltende, aber für seine Fähigkeiten höchst anerkannte Coach hatte wenige Monate zuvor unter medialem Getöse vorzeitig sein Amt bei Mainz 05 geräumt, um ein Sabbatjahr einzulegen. Angeblich, so der Vorwurf, habe Schmidt dem späteren DFB-Pokalsieger-Trainer von Borussia Dortmund per SMS abgesagt, weil der zu viele Kompetenzen gefordert habe. Die Version des Daimler-Mannes liest sich in der medialen Darstellung ein wenig anders: Tuchel habe sich im Frühjahr 2015 noch nicht festlegen wollen. Der dringende Handlungsbedarf habe ihn dann zur Absage gezwungen, die SMS sei lediglich zu dem Zweck gesendet worden, ein Telefonat zu vereinbaren, um dies mitzuteilen. 6
Unabhängig davon, welcher Version man nun Glauben schenken mag: Das Resultat ist, dass nicht Tuchel kommt. Sportvorstand Dutt verpflichtet zur Saison 2015/16 den Trainer Zorniger, der schon im November 2015 wieder gehen muss. Nachfolger Kramny kann den Abstieg im Sommer 2016 trotz eines Zwischenhochs nicht mehr verhindern. Es gibt Menschen, die behaupten, dass das Duo Dutt/Zorniger der letzte sportliche Nagel in den VfB-Sarg war. Schmidt jedenfalls tritt nach der hitzigen MV zurück, auch weil die Mitglieder dem Kontrollgremium die Entlastung verweigern.
Bernd Wahler lobt diesen konsequenten Schritt Schmidts. Bernd wer? Ja, der ehemalige Sportartikel-Manager folgt als Präsident auf Mäuser. Ein gemütlicher Typ. Dabei zeichnet sich immer mehr ab: Der VfB braucht frisches Geld. Eine Ausgliederung samt Anteilsverkauf könnte Millionen in die Kassen spülen – doch nach dem sportlichen Niedergang der Vorjahre, chaotischen Verwerfungen auf der Führungsetage, verhinderter Mitgliederdemokratie ist das Vertrauen auf Niveau null. Um den Boden zu bereiten für die notwendige 75-Prozent-Mehrheit bräuchte es eine stringent durchgezogene Ausgliederungskampagne, mit Propaganda, PR-Tricks, auch harten Diskussionen. Der nette Herr Wahler ist dafür nicht der Richtige. Doch die hohen Herren haben da schon jemanden im Auge.
KAPITEL 2
Der Spalter
Überlebenswichtig
Ein dicker Mann, mit nur noch wenigen Zähnen, sitzt in einer Talkshow. Er erzählt in spanischer Sprache vom VfB, deutsch untertitelt, und lacht sich tot über die idiotischen Entscheidungen, die sie in Bad Cannstatt so getroffen haben.
Natürlich ist das Video ein Fake. Der dicke Spanier ist ein Internet-Meme, ein Kultvideo. Das von allerhand Kreativen mit vermeintlichen Aussagen untertitelt wird, zu jeweils wechselnden Themen. Die Stuttgarter Version fertigt Andreas K. Schlittenhardt an. „Ich war so richtig Fan und war so richtig angekotzt 2015. Da habe ich eine Facebook-Seite ins Netz gestellt, die hieß Fokus VfB, und habe ein Video neu untertitelt mit einem Text, der sich sehr gegen Bernd Wahler und Robin Dutt gerichtet hat.“ Das erzählt der Werbefachmann und Inhaber einer PR-Agentur dem Podcast „VFBSTR“ 7. Die Entstehung der Fanseite Fokus VfB ist der Auftakt zu einem Skandal, der später Vorstände und leitende Mitarbeiter ihre Jobs kosten wird und in dessen Aufarbeitungs-Wirren zwei Präsidiumsmitglieder aus dem obersten Vereinsgremium zurücktreten. Zukunftsmusik, zurück ins Jahr 2015.
Dem sensiblen Wahler entgeht das Video nicht. Er nimmt Kontakt auf zu Schlittenhardt, für den nach eigener Darstellung ein Jugendtraum in Erfüllung geht: „In die Mercedesstraße reinzugehen, dort einen Termin zu haben: Das hat eine unglaubliche Wirkung auf jeden Fan.“ Fast schon automatisch kommt Schlittenhardt mit Oliver Schraft ins Gespräch, Kommunikationschef und Mitglied der Unternehmensleitung beim VfB. „Irgendwann kamen wir drauf: Was machst du beruflich und kann das dem VfB helfen?“ So schildert es Schlittenhardt in dem Podcast. Den Beginn der Zusammenarbeit datiert er auf Februar 2016: „Es ging vor allem darum, in Social Media vorzubereiten (sic), um spätere Botschaften wie die Ausgliederung erfolgreich an die Menschheit zu bringen.“
Die Hülle für eine ausgegliederte Gesellschaft ist bereits im November 2014 bereitet, die handelnden Personen haben eine GmbH & Co. KGaA gegründet, die kurz darauf in eine AG umgewandelt wird. Dass im Vorfeld eine „leere“ Rechtseinheit geschaffen wird, ist nicht unüblich, dafür braucht es auch keinen Mitgliederbeschluss. Doch so richtig an Fahrt nimmt die Thematik erst ab 2015 auf, eigentlich zielen die Verantwortlichen auf den Sommer 2016 ab. Allerdings stellt der Abstieg einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt dar, Wahler legt das Präsidentenamt am Tag nach der Katastrophe nieder. Jemand muss das Feld bereiten. Vorhang auf für
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