Der zweite Grund hat mit der Perspektive der Rhetorik zu tun, die sich von derjenigen anderer Wissenschaften der Kommunikation unterscheidet. Auch wenn uns bewusst bleibt, dass das Publikum ebenso entscheidend ist wie die Rednerfigur, richtet sich die Botschaft der Rhetorik in erster Linie an die Rednerin bzw. den Redner. Auch wenn es eine Lehre des dialogischen, konstruktiven Redens ist, werden wir immer wieder auf die Rednerperspektive zurückkommen, weil es der Redner bzw. die Rednerin ist, an die sich die Ausbildung richtet. 19
Im privaten Rahmen ergibt es sich meist von selbst, wie lang ein Gespräch dauert. Die öffentliche Rede dagegen ist von Zeitvorgaben geprägt. Unterrichtsstunden von der Grundschule bis zur Universität haben ihren festen Zeitrahmen; bei Radio- oder Fernsehsendungen ist die Dauer das Erste, was vorbestimmt ist. Und sogar bei freien Formen, wie sie Podcasts und Video-Blogs ermöglichen, ist eine Beschränkung der Länge meist selbstverständlich. Die zeitliche Begrenzung führt dazu, dass sich viele Rednerinnen und Redner verhalten, als ob sie unter Zeitdruck stünden. Sie nehmen ohne Not eine gehetzte Sprech- und Präsentationsweise an, wie wenn sie Angst hätten, gleich unterbrochen zu werden.
Da ist der Mediziner, der zum Thema „Psychiatrische Störungen“ reden soll. Die Studierenden sind schon da, sie warten in einem großen Hörsaal mit nach hinten ansteigenden Sitzreihen. Die ersten Sitzreihen haben sie typischerweise leergelassen. Der Dozent ist noch nicht zu sehen. Sie blicken auf eine weiße Leinwand, die hinter dem Lehrerpult aufgespannt ist. Einige Minuten nach der vereinbarten Zeit eilt der Dozent in weit ausholenden Schritten durch den Raum auf das Pult zu. 20Als er die Mitte des Raums erreicht, spricht er, ohne anzuhalten, den ersten Satz: „So!“
Da er noch mitten im Lauf ist, sagt er es geradeaus, mit Blick in Richtung Seitenwand. Beim nächsten Schritt sagt er: „Etwas zu spät!“ Bei „spät“ wendet er den Kopf kurz nach links, wo die Studierenden sitzen, allerdings ohne abzubremsen. Er braucht drei weitere Schritte, um sich von einem Tablar eine Fernbedienung zu greifen. Mit dieser dreht er sich um, sagt „äh“ und macht drei kurze Schritte zurück. Dabei studiert er kurz die Fernbedienung und tippt mit dem Finger darauf herum (was auf der Leinwand keinen Effekt erzeugt). Als er hinter dem Pult angekommen ist, sagt er, noch immer zur Fernbedienung: „Schönen guten Tag!“
Erst bei „Tag” blickt der Dozent ins Publikum. Danach wird er sich vorstellen, und dann wird die Vorlesung wirklich beginnen. Er wird zwar versuchen, seine Zuhörer mit seinem Thema zu fesseln. Mit dieser kurzen Einleitung hat er aber weder für sie noch für sich selbst eine gute Vorlage geschaffen. Denn in diesen ersten zehn Sekunden hat er so viele Dinge getan, dass er sich und die anderen überfordert:
»Er betritt den Raum.
»Er durchschreitet den Raum.
»Er nimmt kurz Blickkontakt mit den Zuhörerinnen auf.
»Er ergreift die Fernbedienung (mit einem weiteren Blick ins Publikum).
»Er blickt auf die Fernbedienung, bedient sie.
»Jetzt nimmt er erst seine endgültige Redeposition ein.
»Und er sagt drei Dinge:
»Er spricht die Verspätung an („etwas zu spät“) – eventuell in der Meinung, dies werde als Entschuldigung verstanden.
»Er überbrückt eine Pause (Äh).
»Er sagt guten Tag. 21
All dies ist in einer schwungvollen Bewegung von der Tür bis zum Dozentenpult erfolgt und hat sieben Sekunden gedauert. Für die Veranstaltung stehen 45 Minuten zur Verfügung. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ein derart gehetzter Anfang ist nicht notwendig, und dennoch ist er typisch für diese Art Vortrag, gerade an Hochschulen und anderen Lehranstalten: Die Dozentinnen und Dozenten lassen sich keine Zeit. Sie spurten in den Hörsaal, fangen an, bevor sie richtig angekommen sind, und tun immer mehrere Dinge gleichzeitig. Sie überfordern damit sich und ihr Publikum. Und verpassen die besten Möglichkeiten, mit den Zuhörern in Kontakt zu kommen.
Der Grund ist die scheinbar harmlose Rahmenbedingung, ohne die öffentliches Reden nicht auskommt: die Zeitabsprache. Sie führt in vielen Fällen zu einer unnötigen Hast. „Fasse dich kurz!“ ist eine Maxime, die sich durch sehr viele Bereiche des Lebens zieht, und viele Rednerinnen und Redner orientieren sich sogar dann daran, wenn ihnen genügend Zeit gegeben ist.
Der Einfluss der Zeit
»Zeitmanagement durch den Redner (im Gegensatz zum gemeinsamen Zeitmanagement im privaten Dialog)
»Tendenz zu vorzeitigem Beginn
»Tendenz zu hoher Sprechgeschwindigkeit
»gleichzeitiges Ausführen verschiedener Handlungen (z.B. Sprechen und Bedienung technischer Geräte
Auffällig ist dabei die Tendenz, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Wer sich dem Publikum vorstellen will und gleichzeitig seine Brille zurechtrückt, in sein Manuskript schaut und dabei sagt: „Mein Name ist …“, verpasst die Chance, Kontakt aufzunehmen, vom Publikum als Gesprächspartner wahrgenommen zu werden – und auch das Publikum selbst wahrzunehmen.
Reden heißt Zeit haben. Nicht dass man sich auf eine bestimmte Dauer geeinigt hat, sollte die Leitlinie sein, sondern dass man frei ist, sie mit so viel oder so wenig Dingen zu füllen, wie es sinnvoll ist – sinnvoll für die Konzentration des Redners, für die Aufnahmefähigkeit des Publikums und für ihre Interaktion.
Kultur und Gesellschaft reden mit
Wer zu einer öffentlichen Rede ansetzt, übernimmt eine Rolle, die zu einer gewissen Tradition gehört und entsprechende Erwartungen weckt. Ob diese erfüllt oder missachtet werden sollen, ist eine Sache des Abwägens von Fall zu Fall.
Antoine de Saint-Exupéry berichtet in seiner Geschichte vom Kleinen Prinzen über die Entdeckung des Planeten, von dem er stammt. Ein türkischer Astronom habe ihn als erster erspäht. Als dieser aber seine Entdeckung beim internationalen Astronomenkongress bekannt machte, habe ihm niemand geglaubt, „und zwar ganz einfach seines Anzuges wegen“.
5 | Antoine de Saint-Exupéry: der Astronom in traditioneller Kleidung.
Es dauerte elf Jahre, bis die wissenschaftliche Community den Mann ernst nahm. Dazwischen lagen die Gesellschaftsreformen unter Atatürk, und als der Astronom seinen Vortrag wiederholte, trug er einen Anzug nach westlicher Mode. „Und diesmal gaben sie ihm alle recht“ 22, stellt der Erzähler fest.
6 | Antoine de Saint-Exupéry: der Astronom elf Jahre später.
Die Geschichte erinnert daran, dass Verhaltensnormen sich von Kultur zu Kultur unterscheiden – und dass diese auch für Voraussetzungen des öffentlichen Redens, seine Organisation und seine Funktion gilt. Die Vertreter einer vermeintlich überlegenen Kultur verlangten die Unterwerfung unter ihre Normen, um den Redner überhaupt als solchen anzuerkennen.
Zudem ist das Reden in der Öffentlichkeit seit jeher dazu da, traditionelle kulturelle Güter zu zelebrieren. Reden werden gehalten, um Jubilare zu ehren, um Begräbnissen einen würdigen Rahmen zu geben oder auch um an einem politischen Feiertag ein Zeichen zu setzen. Nicht was gesagt wird, sondern dass etwas gesagt wird, ist wichtig. Ohne gesprochene Formeln bei Gründungsakten, Taufen oder Ernennungen könnte die betreffende Handlung gar nicht durchgeführt werden. Aber in vielen Fällen werden Äußerlichkeiten, Form und Gehabe, wichtiger genommen als der Inhalt. Dies ist in der öffentlichen Rede ständig präsent. Umso wichtiger ist es für den Einzelnen oder die Einzelne, sich vom sozialen Druck, der daraus entsteht, so weit möglich zu emanzipieren und nur diejenigen Rahmenbedingungen zu akzeptieren, ohne man nicht auskommt. Es geht also darum, sich mit den Erwartungen der Umgebung so weit zu arrangieren, dass die Verständigung klappt, aber die eigene Selbstachtung gewahrt bleibt.
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