„Warum halten eigentlich die meisten Menschen so gern Reden? – Wie ich glaube, deshalb, weil dies die einzige Art und Weise ist, in der sie sich die Illusion verschaffen können, dass ihnen die anderen zuhören. Sie hören natürlich nicht zu; wenn sie nur irgend können, dann verschaffen sie sich auf ihren Zuhörerplätzen Papier, Programme, ein Zettelchen, und dann ziehen sie mit ernster Miene einen Bleistift aus der Tasche und machen sich Notizen … Männerchen, Sternchen, Kreise und schraffierte Felder, und ein geschickter Seelenarzt kann aus diesen Malereien viel Aufschlussreiches herauslesen … Zuhören aber tun sie nicht.“ 5
Das ist das (weniger berühmte) Zitat Tucholskys über das Publikum. Darin spiegelt sich die klassische monologische Einstellung. Das Publikum sollte zuerst still zuhören und sich eventuell im Nachgang äußern. Dennoch war es auch damals nicht passiv. In jedem Fall wurde erwartet, dass es mitdachte, lernte, im besten Fall auch weiterdachte. Das kann durch einen guten Vortrag erreicht werden. Und wir werden in diesem Buch sehen: Je dialogischer der Ansatz ist, desto leichter wird es und desto aktiver wird die Rolle, die das Publikum übernimmt.
Das Publikum ist freiwillig da
Vom Publikum kann immer Interesse erwartet werden – im Idealfall sogar Wohlwollen. Beides lässt sich fördern, indem es wahrgenommen und auf Augenhöhe angesprochen wird.
Eine weitere Rolle, die im Rhetorik-Unterricht oft übersehen wird, ist die des Veranstalters. Zwar spricht er nicht und spendet auch nicht Applaus; dennoch macht er seinen Einfluss geltend, sei es durch die Vorgabe eines Programms, sei es durch Kleidervorschriften oder auch durch Zensurmaßnahmen. In der digitalen Welt ist es zurzeit umstritten, wie stark der Einfluss des Eigentümers einer Plattform – etwa von Facebook oder Twitter – auf die präsentierten Inhalte sein soll. Die Tweets von US-Präsident Trump wurden zum Teil mit Kommentaren versehen („Diese Behauptung über Wählbetrug sind umstritten“), zum Teil gelöscht, bis gegen Ende seiner Amtszeit der gesamte private Account von @RealDonaldTrump aus dem Netz entfernt wurde. Aber im Zusammenhang mit Redebeiträgen sind auch andere Zensurmaßnahmen bekannt geworden. Dazu gehören Eingriffe der weltumspannende Vortragsfirma TED, die Bühnenprogramme mit Kurzvorträgen organisiert, die später im Internet Millionen von Klicks generieren. Dabei müssen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einen ganzen Katalog von Vorschriften halten. Wenn sie es nicht tun, werden sie mitunter damit gestraft, dass ihre Vorträge auf der TED-Plattform nicht weiter zu sehen sind.
So ging es im Jahr 2012 dem Unternehmer und Investor Nick Hanauer. Selbst Milliardär, wandte er sich gegen die Steuervorteile, die Unternehmen und reiche Mitbürger in den USA genießen. Zwar werde behauptet, dass sie die so erzielten Einsparungen für neue Arbeitsplätze nutzten. Aber Hanauer stritt dies vehement ab: „Reiche Leute wie ich schaffen keine Arbeitsplätze; Arbeitsplätze sind die Folge einer Rückkopplung von Kunden und Unternehmen.“ Hanauer brüskierte die Reichen und Superreichen, die schon viel zum Erfolg von TED beigetragen hatten. Das fand man dort nicht witzig, sondern man beschloss, das Video von Hanauers Rede nicht zu veröffentlichen. Die Begründung: Die Leistung sei „mittelmäßig“ gewesen, das anwesende Publikum habe gemischte Reaktionen gezeigt, und mit der politischen Botschaft könnten sich viele Geschäftsleute angegriffen fühlen. 6
Mitspieler Nummer 3, der Veranstalter, hatte zugeschlagen. In seiner Macht steht es, den Rednern eine Plattform zur Verfügung zu stellen oder auch zu entziehen. Er hat auch die Macht, für den Inhalt der Reden in seinem Einflussbereich eigene Regeln zu formulieren. Für die TED-Vorträge existiert eine Liste, die angibt, welche Inhalte zulässig sind und welche nicht. Dies geht so weit, dass Behauptungen, die sich „außerhalb orthodoxen wissenschaftlichen Denkens“ 7bewegen, der Zensur unterworfen werden. 8Aber auch für die Sprache gibt es Regeln. So ist zum Beispiel „unpräzises New-Age-Vokabular“ verboten. 9Es ist leicht denkbar, dass es da Rednerinnen und Redner schwer haben, die eine radikale politische oder philosophische Position vertreten. 10
Im Fall von Hanauer kam es bald zu einem Kräftemessen zwischen TED und dem Redner, der immerhin finanzkräftige Partner hinter sich wusste. Er wehrte sich erfolgreich. TED gab klein bei, lud später Hanauer sogar erneut ein, um ihn dann sehr schmeichelhaft auf der TED -Website zu präsentieren. 11
Der Einfluss des Veranstalters
»Platzierung der Rede im Programm (im Kontrast mit anderen Reden)
»Regeln zur Form, von der Kleidung bis zum sprachlichen Ausdruck
»Festlegung inhaltlicher Grenzen
»Entscheidung über die Weiterverbreitung (Kontakt zur Presse, Internetauftritt, Aufnahme in Publikationen)
Die Regeln des Veranstalters müssen nicht, wie bei TED, schriftlich festgelegt 12sein; andernorts hält man sich mehr oder weniger unbewusst an traditionelle Formen. Wie der Pfarrer bei der Taufe spricht (in welcher Kleidung, welchen Worten, an welchem Platz in der Kirche, mit welchen Gesten usw.), ist in der Liturgie des Gottesdienstes festgeschrieben. Was im Parlament möglich ist und was nicht, schreibt die Geschäftsordnung vor. Aber auch wenn Jugendliche einen Debattierclub gründen, stellen sie ad hoc Regeln auf, die nicht sehr von den überlieferten Gebräuchen abweichen, obwohl sie es in der Hand hätten, völlig neuartige Formen auszuprobieren.
Alle diese Formen der Einflussnahme lassen einen wichtigen Grundton des Redens in der Öffentlichkeit erkennen: Es geschieht in einem Kontext der Autorität . Der Rollenunterschied zwischen Redner und Zuhörern fügt sich in ein Machtgefälle ein, in dem gewöhnlich der Veranstalter das Sagen hat. Wenn die Rednerin sich den Vorgaben des Veranstalters fügt, profitiert sie von dessen Macht. Wenn sie aber (wie Hanauer) Thesen vertritt, die den Interessen des Veranstalters widersprechen, oder formale Vorgaben unterläuft (wie es gelegentlich bei Oscar-Verleihungen zu beobachten ist), nimmt sie einen Machtkampf auf, den sie auch verlieren kann. Auf der anderen Seite ist der Erfolg von Reden oft gerade darauf zurückzuführen, dass der Redner oder die Rednerin in Maßen auf Distanz zum Veranstalter geht, mit dessen Regeln kokettiert oder sie explizit missachtet.
Die Regeln können auch unterlaufen werden
Ein Beispiel für den spielerischen Umgang mit den Regeln des Veranstalters: Bei der Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag zum 25 Jahre zuvor erfolgten Fall der Mauer war Wolf Biermann eingeladen, ein Lied zu singen.
Er nutzte die Gelegenheit zu einer gesprochenen Einleitung über sein Verhältnis zu der Partei Die Linke , wurde vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert mit einem humorvollen Verweis auf die Geschäftsordnung unterbrochen, die ihm das verbiete, was er wiederum konterte: „Das Reden habe ich mir in der DDR nicht abgewöhnt und werde das hier schon gar nicht tun.“ 13
Zu berücksichtigen bleibt, dass institutionelle Vorgaben auch etwas Gutes haben. Auch wenn sie in vielen Fällen lächerlich oder veraltet wirken, erleichtern sie auch die Kommunikation. Sie unterstreichen die Funktion der betreffenden Person und verleihen ihr damit mehr Autorität. Zur rhetorischen Praxis gehört es, sich zu überlegen, inwieweit es möglich ist, von den Normen des Veranstalters zu profitieren, aber auch von ihnen abzuweichen, um nicht nur als Vertreter einer abstrakten Instanz, sondern auch als Individuum in den Dialog mit dem Publikum zu treten.
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