Extras
Der Anhang enthält Vorschläge für die Gestaltung von Seminaren mit einer Reihe bewährter Übungen für das Reden vor Gruppen in Präsenz und online.
Dieses Buch ist entstanden, als die Corona-Pandemie viele von uns zwang, Präsenzveranstaltungen ins Netz zu übertragen. Es fußt auf Erfahrungen der Online-Rhetorik, wie sie sich mit den sozialen Medien und den Werkzeugen der digitalen Lehre entwickelt hat. Es nimmt aber auch – in überarbeiteter Form – Grundgedanken und bewährte Inhalte aus dem Buch Konstruktive Rhetorik von 2019 auf.
Die Regeln und Tipps richten sich an alle, die in irgendeiner Form mündlich informieren müssen, und natürlich auch an Lehrende, die das Halten von Vorträgen als Schlüsselkompetenz vermitteln. An sie wenden sich besonders auch die praxiserprobten Seminar- und Übungsvorschläge. Allen aber wünsche ich, dass ihnen die dialogische Ausrichtung des Buchs eine Hilfe ist und dass sie beim Lehren und Lernen auch den spielerischen Aspekt des Redetrainings entdecken.
1Reden vor Publikum: Was wird anders?
Luisa Neubauer, die Geografie-Studentin und Klimaschutz-Aktivistin, steht auf der Bühne. Am Rand des Berliner Invalidenparks spricht sie zu mehreren tausend Menschen, die sich zum internationalen Klimastreik versammelt haben. Sie steht aufrecht, während sie sagt: „Wir sind vernetzter als je zuvor, wir sind globaler als je zuvor, wir werden den Leuten so lange auf die Nerven gehen, bis sie begreifen, dass sie an der Reihe sind, was zu tun.“ Es sind klare, plakative Sätze, und einige davon hämmert sie den Zuhörenden richtiggehend ein: „Wir sind die Generation, die das schaffen kann!“ Jede der unterstrichenen Silben betont sie und dazu schlägt sie mit beiden Armen den Takt. „Wir sind diejenigen, die das schaffen müssen, und wir werden das schaffen.“ 3
1 | Die Rednerin auf der Bühne.
Die einprägsamen Formulierungen, die starken Betonungen, die rhythmischen Armbewegungen: das ist die „öffentliche“ Luisa. Sie formuliert mit fester Stimme klare Botschaften in kurzen, vollständigen Sätzen.
Eine Fernseh-Doku zeigt sie aber auch im Gespräch mit ihren Freunden. Man sieht sie bei der Planung einer Aktion, beim Diskutieren persönlicher Probleme oder beim Entspannen nach einem anstrengenden Tag. Da ist keine Bühne mehr; sie stehen nahe beieinander. Luisas Stimme klingt mal kräftiger, mal zurückhaltend. Sie braucht nicht immer vollständige Sätze zu machen und lässt sich auch unterbrechen oder fragt nach. Dazu steht, sitzt oder liegt sie, geht durch den Raum. Manchmal schaut sie aufs Handy, gelegentlich führt sie ihre Hände zum Mund oder stützt ihr Kinn auf, um nur zuzuhören.
2 | Gespräch unter Freunden: geringe Distanz.
Das sind zwei Bilder von ein und derselben jungen Frau, einmal bei der öffentlichen Rede vor Publikum und einmal im Gespräch mit Vertrauten. Ansprache im Kontrast zu Zwiesprache. Sie illustrieren die drastischen Unterschiede, die sich da ergeben können. Auch wenn das Ziel nicht in einer Kampfrede besteht, ist es dennoch wichtig zu wissen, unter welchen Bedingungen sich die öffentliche Rede entwickelt hat. Es hilft, zu erkennen, wie man mit diesen Vorgaben umgehen kann. Die nächsten Kapitel zeigen die wesentlichen Aspekte auf. Einige davon müssen respektiert werden, andere lassen sich durchaus ignorieren. Alle werden einfacher, wenn man sie mit einer dialogischen Haltung angeht.
Im Überblick sind dies die wichtigsten Merkmale öffentlicher Kommunikation:
» Drei Rollen: Die Beteiligten übernehmen unterschiedliche Aufgaben:
»eine Person trägt vor
»eine Gruppe hört zu
»ein Veranstalter schafft den Rahmen
» Mehr Raum: RednerIn und Publikum sitzen oder stehen einander in einer gewissen Entfernung gegenüber (Präsenzvortrag) – oder sie befinden sich in unterschiedlichen Räumen und sind durch ein elektronisches Medium verbunden (Online-Vortrag).
» Zeitliche Begrenzung: Wie lang eine Rede sein soll, ist von vornherein abgesprochen oder ergibt sich aus der Erfahrung.
» Einflüsse von Kultur und Gesellschaft: Für jeden Typ Rede gibt es Vorgaben, die von der Wahl des Ortes bis zur Kleidung gehen können.
» Redeziele und Redehandlungen: Eine Rede ist mit einem klaren Zweck verbunden, dem eine sprachliche Handlung zugeordnet werden kann.
» Planung: Jeder Rede geht eine längere oder kürzere inhaltliche und sprachliche Planung voraus.
» Sprache, Sprechen und Körpersprache ergeben sich als Produkt dieser Rahmenbedingungen.
Drei Rollen sind beteiligt: RednerIn, Publikum, Veranstalter
Die Dozentin und die Studierenden; der Vorgesetzte und die Mitarbeitenden; die Pfarrerin und die Gemeinde; der Influencer und die Follower usw.: Sobald eine öffentliche Rede angesagt ist, übernehmen die Beteiligten unterschiedliche Rollen. Die Rolle der Rednerin oder des Redners wird akzeptiert, weil die betreffende Person eine Kompetenz mitbringt, von der die anderen profitieren können, indem sie zuhören können. Das ist die grundlegende Spielregel der öffentlichen Rede.
„Wenn einer spricht, müssen die andern zuhören – das ist deine Gelegenheit! Missbrauche sie.“ 4Kurt Tucholskys Schlussworte zu seinen Ratschlägen für einen schlechten Redner sagen alles über die destruktive Wirkung der klassischen Rednerrolle. Sie stammen aus einer Zeit, in der der öffentliche Vortrag noch einen ganz anderen Stellenwert als heute hatte. Er war oft die direkte Begegnung mit einer Informationsquelle, zu der es keinen anderen Zugang gab. Man ging hin, um sich zu informieren oder überzeugen zu lassen, weil das der unmittelbarste Zugang zu kompetenten und aktuellen Informationen und Stellungnahmen war. Es gab keine Podcasts, keine YouTube-Kanäle, keine spezialisierten Fernsehangebote. Und das Radio, das noch keine zehn Jahre alt war, lieferte zu einem großen Teil genau dies: Vorträge von Fachleuten und Politikern.
Heute steht jeder Vortrag in Konkurrenz zu anderen aktuellen Medien. Das hat die Rolle nur wenig verändert, aber geblieben ist die Erwartung an eine kompetente Person, die sprechen wird. Gefragt ist ihre Sachkompetenz, aber auch ihre Perspektive: ihre Erfahrung als Fachperson, ihre Spezialität, die sie von anderen unterscheidet. Das ist Verpflichtung und Erleichterung zugleich. Es verpflichtet zu einer gut recherchierten inhaltlichen Darbietung. Und es erleichtert die Aufgabe, weil niemand im Saal das gewählte Thema besser kennt.
Die Rolle als Verpflichtung
Die Rolle der Rednerin oder des Redners ergibt sich aus der Kompetenz der vortragenden Person. Im Sachvortrag beruht sie auf Fachwissen und Erfahrung. Das sollte zum Selbstvertrauen beitragen. Das Privileg, als einzelner Mensch zu mehreren reden zu dürfen, verpflichtet aber auch zur inhaltlichen Sorgfalt.
Ausgeprägter als vor hundert Jahren ist die Erwartung an einen unmittelbaren Austausch während oder nach dem Vortrag. Bereitschaft zur Antwort auf Fragen und Improvisation sind die Regel. Auch digital übertragene Vorträge betonen dies durch eine Kommentar- oder Chat-Funktion. Der heutige Vortrag ist offen – und wenn das Medium dies nicht erlaubt, dann wird es wenigstens deklariert.
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