Der Raum der Begegnung wird wichtig
Weil sich eine einzelne Person an eine Gruppe von Menschen wendet, wird ein größerer Raum benötigt als im privaten Gespräch. Das bedeutet fast in jedem Fall, dass Redner und Publikum einige Meter Abstand brauchen. Die Innenarchitektur betont dies noch: Eine Rednertribüne, ein Lehrerpult oder eine Bühne sorgen für die Sicht- und Hörbarkeit. Stühle, Bänke, Sitzreihen richten die Zuhörenden auf die wichtigste Person im Raum aus. Viele Gebäudetypen sind im Hinblick auf öffentliche Reden geschaffen worden: Parlamentsgebäude, Gerichtssäle, Kirchen, Schulzimmer. Sie bestimmen, wo der Redner steht und wo die Zuhörer sitzen: Es gibt das Podium, die Kanzel, das Katheder. Diese Wörter allein lassen an bestimmte Arten des Redens denken: Podiumsredner, Kanzelwort, Kathederweisheit …
Aber auch in informellen Situationen ist es weithin üblich, dass die Rednerin sich vom Sitz erhebt und die Menschen, die sie hören sollen, im Stehen anspricht, auch wenn diese selbst sitzen. Indem sie aufsteht und einen besonderen Standort einnimmt, setzt sie ein Zeichen. Sie erhöht aber auch die Verständlichkeit und zeigt Respekt für die um sie Versammelten. Wer sitzen bleibt, gilt schnell als unhöflich, auch wenn es als Zeichen der Bescheidenheit oder der Originalität gemeint ist.
Einfluss auf die Sprechweise
Die Distanz zwischen Redner und Publikum beeinflusst die Art, wie mit der Stimme umgegangen wird. In hohen und weiten Räumen entsteht ein starker Hall – ein Effekt, der beim nicht-öffentlichen Gespräch in kurzer Distanz kaum eine Rolle spielt. Das führt zu mehr und längeren Pausen, die gebraucht werden, um die Stimme verhallen zu lassen. Deshalb hat sich eine redetypische Sprechweise entwickelt, mit gleichförmigem Rhythmus und vielen Betonungen. Man hat den Extremfall dieser Sprechweise von Festreden im Ohr. Ansätze dazu lassen sich auch in vielen Online-Vorträgen erkennen. Zwar würde das Mikrofon eine zurückhaltendere Sprechweise erlauben; aber das Bewusstsein für die öffentliche Situation beeinflusst dennoch mehr oder weniger stark die Art und Weise des Sprechens in der Online-Situation.
Einfluss auf die Körpersprache
Dass der Raum sich weitet, beeinflusst auch die Körpersprache. Vieles, was Rednerinnen und Redner intuitiv tun – wie sie sich bewegen, wie sie dastehen, welche Gesten sie ausführen –, ist durch die Distanz zum Publikum zu erklären, die zur traditionellen öffentlichen Rede gehört, auch wenn diese in vielen Fällen längst aufgehoben ist.
Honoré Daumier hat dies illustriert, als er Mitte des 19. Jahrhunderts Anwälte karikierte. Es war die französische Juli-Monarchie, eine Zeit der Skandale und sozialen Missstände. In der Serie Les gens de justice zeichnete er zwei Advokaten, die sich noch auf ihren Auftritt vorbereiten. Der eine ordnet seine Halsbinde, der andere schlüpft gerade in den Talar. Die Art ihres Gesprächs ist aus diesen privaten Handlungen, aus der Mimik , aber auch schon allein aus der Nähe der beiden Figuren erkenntlich. Sie werden gleich gegnerische Parteien vertreten; aber eigentlich sind sie Kumpel und vertrauen sich an, was sie wirklich von der Sache denken.
3 | Honoré Daumier: zwei Anwälte vor ihrem Auftritt in kollegialem Gespräch. 14
4 | Honoré Daumier: der Anwalt beim Plädoyer. 15
Ein anderes Bild zeigt die beiden in der Hitze des rhetorischen Gefechts. Dem plädierenden Anwalt ist anzusehen, dass er zu einem ganzen Saal spricht. Man ahnt die große Lautstärke, auch die Gestik ist für die Wirkung im Raum ausgelegt. Mit seiner Körperhaltung , leicht nach hinten gedehnt, vergrößert er sogar noch die Distanz zum gegnerischen Anwalt, der den indignierten Kollegen spielt.
Auch das Verhalten des Publikums wird durch die räumliche Einrichtung geleitet. Die Menschen werden auf eigens angeordnete Sitze verwiesen. Das gibt die Blickrichtung vor und fördert damit die Aufmerksamkeit. Es schränkt aber auch ihre Beweglichkeit ein. Zwischen anderen Zuhörern eingepfercht, ist man zu einer ruhigen, wenn nicht gar starren Haltung gezwungen. In einem gewissen Sinn isoliert die räumliche Anordnung den Redner; sie verstärkt den Eindruck der Distanz zwischen ihm und dem Publikum.
Der Einfluss des Raums
»größere Distanz des Redners zum Publikum
»reduzierte Bewegungsmöglichkeiten des Publikums
»vereinfachte, auf Deutlichkeit ausgerichtete Körpersprache
»lautes, gleichförmiges Sprechen
Rhetorik: Die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit
Rhetorik ist in diesem Sinne die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit : vom Reden, wenn der Raum sich weitet und die Rollen in Redner und Publikum aufgeteilt sind. Man sieht und hört es einem Menschen an, wenn er seine private Redeweise verlässt und – je nach Typ – doziert oder referiert oder predigt. Er begibt sich auf Distanz, nimmt eine neue Rolle an und verhält sich nach anderen Normen.
Wer redet, schafft zwar nicht in jedem Fall Öffentlichkeit im soziologischen Sinne. 16Aber die Gemeinschaft mit dem Publikum im erweiterten Raum macht die Inhalte der Rede für andere zugänglich und schafft die Möglichkeit, dass die Inhalte der Rede weitergetragen werden und über die Anwesenden hinauswirken. Sie werden das Gehörte weiterverbreiten, in der Familie, in anderen sozialen Gruppen. Öffentlich zu reden, bedeutet, in einem größeren Raum zu reden, im konkreten wie im übertragenen Sinne.
Die in diesem Buch verwendete Rhetorik-Definition „Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit“ schränkt den Begriff stark ein im Vergleich zum Anspruch, den die akademische Rhetoriktheorie seit Jahrhunderten erhebt. Denn diese aus dem Altertum entwickelte Wissenschaft hatte immer mehr im Sinn, als nur eine Kommunikationslehre zu sein. Sie bezog immer Aspekte der Philosophie, Psychologie und Sprachwissenschaft ein. Diese wurden später von eigenen Disziplinen (z.B.: Linguistik, Psychologie, Kommunikationswissenschaft) übernommen. Einige davon sind direkt aus der Rhetorik entwickelt worden, andere zumindest können ihre Verwandtschaft nicht leugnen.
Deshalb umfasst der heutige praktische Rhetorikunterricht nur noch einen kleinen Teil des klassischen Lehrgebäudes. Das hat aber durchaus seinen Sinn, eben weil es moderne Fächer gibt, die sie entlasten, weil sie Inhalte erforschen, die früher zur Rhetorik gehörten.
Moderne Erben der klassischen Rhetorik
»Linguistik
»Literaturwissenschaft
»Psychologie
»Jurisprudenz
»Theaterwissenschaft
»Medienwissenschaft
Dennoch ist das in diesem Buch verwendete Verständnis von Rhetorik – als Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit – eine bewusste Einschränkung. Es beruht auf der Beobachtung des Besonderen am Reden zu einer Gruppe von Menschen im Vergleich zum Reden mit Menschen in einem informellen Rahmen. 17
Dass diese Lehre trotz ihrer klaren Einschränkung immer noch Rhetorik genannt werden soll, hat zwei Gründe. 18Der eine liegt in der Tradition des Sprachgebrauchs : Im deutschen Sprachraum hat Rhetorik sich als Bezeichnung für alle Formen des praktischen Redetrainings eingebürgert. Unzählige Angebote führen den Begriff im Titel, auch wenn sie keinen Zusammenhang zur wissenschaftlichen Rhetorik erkennen lassen. Deshalb sollte ein Buch wie dieses, das den Bezug zur Wissenschaft beibehält, den Begriff nicht über Bord werfen.
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