Bultmann sieht wie Kähler in den Bemühungen um den historischen Jesus ein unlösbares und unfruchtbares Unternehmen; wie Kähler ist Bultmann der Meinung, dass der Glaube nicht auf unsicheren historischen Vermutungen gegründet werden darf. Deshalb muss sich die ntl. Theologie von der bereits bei Paulus und Johannes vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und der nachösterlichen Christusverkündigung, dem Kerygma, leiten lassen 4.
Das Modell der Kontinuität
Zwar ist es nicht möglich, im neuzeitlichen Sinn eine Biographie Jesu zu schreiben, dennoch gibt es zwingende Gründe, eine Theologie des Neuen Testaments mit einer Darstellung der Verkündigung des vorösterlichen Jesus von Nazareth beginnen zu lassen: 1) Zuallererst sind es die Quellen selbst, die eine Beschränkung auf die nachösterliche Verkündigung verbieten. Jeder Vers der Evangelien zeigt, dass ihre Autoren den Ursprung des Christentums nicht im Kerygma, sondern im Auftreten des Jesus von Nazareth sehen. Im Vergleich mit anderen Bewegungen ist der durchgehende Bezug auf die Person Jesu auffallend; in einem sehr hohen Maß dient die Jesusüberlieferung überhaupt nur dazu, die Person Jesu herauszustellen. Ebenso verweist die nachösterliche Christusverkündigung auf Schritt und Tritt über sich selbst zurück. Sie bezieht sich durchgängig auf ein historisches Ereignis und ist in ihrem Kern (1 Kor 15, 3b.4a: „gestorben … und begraben“) die Deutung eines historischen Geschehens.
2) Aus erzähltheoretischer Sicht ist eine Trennung zwischen dem historischen Jesus und dem Kerygma ebenfalls nicht durchführbar (s.o. 1.3). Auch R.Bultmann konnte eine Verbindung zwischen beidem nicht gänzlich leugnen, reduzierte aber die Bedeutsamkeit des Jesus von Nazareth für das Kerygma auf das ‚Daß‘ seines Gekommenseins 5. Eine solche Minimierung auf einen völlig abstrakten Kern macht eine Rezeption unmöglich 6. Das bloße ‚Daß‘ eines Gekommenseins ist in seiner Unanschaulichkeit weder vermittel- noch rezipierbar; es kann nicht erzählt, allenfalls konstatiert werden! Die Vielfalt nachösterlicher Jesus-Christus-Erzählungen lässt sich ohne eine Verbindung zum Reichtum der vorösterlichen Erzählwelt nicht erklären.
3) Schließlich lässt sich aus sinntheoretischer Sicht zeigen, dass eine Alternative ‚historischer Jesus – Kerygma‘ nicht möglich ist und deshalb aufgegeben werden sollte. Bereits die Verkündigung des Jesus von Nazareth kann in umfassender Weise als Sinnbildung verstanden werden. Jesus interpretierte das gegenwärtige Heils- und Gerichtshandeln Gottes neu und stellte es in eine einzigartige Verbindung zu seiner Person. Jesu Selbstverständnis kann nicht von dem Gebrauch oder Nicht-Gebrauch einzelner Titel abhängig gemacht werden, sondern sein Auftreten und sein Anspruch lassen in ihrer Gesamtheit nur den Schluss zu, das er selbst seiner Person eine einzigartige Würde im Endzeithandeln Gottes zuschrieb. Jesu Sinnbildung stellt den Ausgangspunkt und die Grundlage jener Sinnbildungen dar, die wahrscheinlich schon vor Ostern einsetzten und sich nach Ostern unter veränderten Verstehensbedingungen fortsetzten 7. Einen historisch und theologisch tiefgreifenden Bruch zwischen einem angeblich unmessianischen Selbstverständnis Jesu und dem christologisch gefüllten Kerygma hat es nie gegeben! 8
Dem Modell der Kontinuität sind mit unterschiedlicher Begründung vor allem J.Jeremias, L.Goppelt, W.Thüsing, P.Stuhlmacher, U.Wilckens und F.Hahn verpflichtet. Jeremias arbeitet mit dem Modell ‚Ruf Jesu – Antwort der Gemeinde‘; Goppelt wählt den Terminus des ntl. ‚Erfüllungsgeschehens‘ zu seinem hermeneutischen Ausgangspunkt; Thüsing entwickelt ein hochkomplexes System der ‚Rückfrage nach Jesus‘, das in der Theozentrik Jesu den Ausgangspunkt und den inneren Kern aller ntl. Theologie erblickt; Stuhlmacher arbeitet im Rahmen einer ‚Biblischen Theologie‘ die Traditions- und Bekenntniskontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Testament heraus; Wilckens sieht in der Wirklichkeit des einen Gottes die Einheit der (biblischen) Theologie und Hahn schließlich wählt den Offenbarungsbegriff zur Kennzeichnung der Kontinuität des Handelns Gottes (s.u. 2.3).
Ostern markiert weder den Anfang noch eine völlig neue Qualität von Sinnbildungen innerhalb der mit Jesus von Nazareth einsetzenden neuen Geschichte Gottes, denn Jesu einzigartiges Verhältnis zu Gott ist vor und nach Ostern gleichermaßen die Basis aller Aussagen (s.u. 4) 9. Zweifellos ist eine Unterscheidung zwischen vor- und nachösterlich sachgemäß, wenn damit die unterschiedlichen Zeitebenen, Sachanforderungen und Theologiekonzepte zum Ausdruck gebracht werden sollen. Sie rechtfertigen jedoch nicht die Annahme einer grundlegenden Diskontinuität, denn das Wirken und die Wirkungen Jesu stehen am Anfang der Theologie des Neuen Testaments und sind zugleich ihr Kontinuum.
2.2Theologie und Religionswissenschaft
W.WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, in: G.Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2.1), 81–154; J.SCHRÖTER, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, BThZ 16 (1999), 3–20; H.RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, SBS 189, Stuttgart 2000; G.THEISSEN, Die Religion der ersten Christen (s.o. 1), 17–44; I.U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, ThLZ 126 (2001), 4–20; A.FELDTKELLER, Theologie und Religion, Leipzig 2002; R. V. BENDEMANN, „Theologie des Neuen Testaments“ oder „Religionsgeschichte des Frühchristentums“?, VuF 48 (2003), 3–28.
William Wrede (1859–1906) bestimmte in seiner Programmschrift von 1897 die Aufgabe des historisch orientierten Exegeten so: „Ein reines, uninteressiertes Erkenntnisinteresse, das jedes sich wirklich aufdrängende Ergebnis annimmt, muß ihn leiten.“ 10Er darf sich weder am Kanonbegriff noch einer anderen dogmatischen Konstruktion orientieren. Gegenstand seiner Arbeit muss die gesamte frühchristliche Literatur sein, die als Zeugnis einer gelebten Religion zu lesen ist. Deshalb lautet der für die Sache passende Name: „urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der urchristlichen Religion und Theologie.“ 11In der gegenwärtigen Diskussion gewinnt die Position von Wrede im Kontext neuzeitlicher Theologiekritik, Toleranzbewusstseins und Methodenpluralismus wieder an Bedeutung 12. H.Räisänen knüpft ausdrücklich an Wrede an und postuliert unter Aufgabe der Kanonsgrenzen eine religionswissenschaftliche Theologiegeschichte des Frühchristentums, die „nüchterne Informationen vom Charakter, Hintergrund, und der Entstehung der Frühgeschichte des Christentums“ 13liefern soll. Es geht dabei um eine ausschließlich historische Arbeit, philosophisch-theologische Fragen werden ausdrücklich erst in einem zweiten Arbeitsgang erörtert. Als oberstes Ziel einer solchen Darstellung gilt die Fairness, sowohl gegenüber den ntl. Autoren als auch den konkurrierenden religiösen Systemen (Judentum, Stoizismus, Kulte der hellenistischen Welt, Mysterienreligionen). Bewusst soll nicht aus einer kirchlichen Innen-, sondern allein aus einer wissenschaftlichen Außenperspektive an das Frühchristentum herangetreten werden, um seine Denkwelt und seine Interessen zu erheben. Der Exeget darf den religiösen Standpunkt seines Gegenstandes gerade nicht übernehmen, denn sonst agiert er als Prediger und nicht als Wissenschaftler 14. Auch G.Theißen orientiert sich ausdrücklich am Programm von W.Wrede, das sechs Vorzüge aufzuweisen hat 15: 1) Die Distanzierung gegenüber dem normativen Anspruch religiöser Texte; 2) die Überschreitung der Kanonsgrenzen; 3) die Emanzipation von Kategorien wie ‚Orthodoxie‘ und ‚Häresie‘; 4) die Anerkennung der Pluralität und Widersprüchlichkeit theologischer Entwürfe im Urchristentum; 5) die Erklärung theologischer Gedanken aus ihrem realen Lebenskontext heraus; 6) die Offenheit gegenüber der Religionsgeschichte. Theißen vertritt ausdrücklich eine Außenperspektive, er will den Zugang zum Neuen Testament für säkularisierte Zeitgenossen offen halten. Deshalb schreibt er keine Theologie im konfessorischen Sinn, sondern eine Theorie der urchristlichen Religion, die auf allgemeinen religionswissenschaftlichen Kategorien beruht. Ausgangspunkt ist dabei die These: „Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.“ 16Dieser semiotische Ansatz betrachtet Religion als ein kulturelles Zeichensystem, das sich in Mythos, Ritus und Ethos ausdrückt. Mythen erläutern in narrativer Form, was Welt und Leben grundlegend bestimmt (s.u. 4.6). Riten sind Verhaltensmuster, mit denen Menschen ihre alltäglichen Handlungen durchbrechen, um die im Mythos ausgesagte andere Wirklichkeit darzustellen. Zu jeder religiösen Zeichensprache gehört schließlich das Ethos; sowohl im Judentum als auch im Christentum organisiert sich das gesamte Verhalten durch seine Beziehung auf die Gebote Gottes. Auf dieser Grundlage zeichnet Theißen den Umformungsprozess des frühen Christentums von einer innerjüdischen hin zu einer eigenständigen Bewegung nach, der sich in Kontinuität und Diskontinuität zum jüdischen Zeichensystem vollzog.
Читать дальше