Mit dem Einsatz bei den einzelnen ntl. Autoren/Schriften (ausgenommen natürlich die Verkündigung des Jesus von Nazareth) unterscheidet sich diese Theologie wesentlich von dem Entwurf R. Bultmanns. Seine Theologie des Neuen Testaments gleicht in ihrem Aufbau einem Bergmassiv mit zwei Gipfeln. Man hat zunächst einen ‚leichten‘ Anstieg, denn die Frage nach dem historischen Jesus wird ausgeblendet und das vor- bzw. außerpaulinische Christentum nur summarisch behandelt. Dann folgt ein sehr ‚steiler‘ Aufstieg: Der Paulus- und Johannes-Abschnitt in der Theologie des Neuen Testaments bilden ein je in sich geschlossenes Meisterstück. Paulus und Johannes sind die beiden einzigen ‚wirklichen‘ Theologen des Neuen Testaments, sie sind gewissermaßen die ‚Gipfel‘ theologischer Reflexion 43. Johannes steht in sachlicher Nähe zu Paulus, beide befinden sich im Raum eines gnostisch gefärbten Hellenismus und gestalten ihre Christologie „nach dem Muster des gnostischen Erlösermythos“ 44. Nach diesen beiden Gipfeln folgt ein steiler Abstieg, denn die nachjohanneische Entwicklung und der Weg zur Alten Kirche werden wiederum nur sehr summarisch dargestellt. Faktisch führt die Konzentration auf Paulus und Johannes bei Bultmann zu einer Vernachlässigung bzw. einem Ausblenden wesentlicher theologischer Entwürfe im Neuen Testament (z.B. Synoptiker, Apostelgeschichte, Deuteropaulinen, Hebräerbrief, 1Petrusbrief, Jakobusbrief, Johannesoffenbarung).
Eine solche Reduzierung findet sich bei F. Hahn nicht, der in Band I seiner Theologie des Neuen Testaments umfassend die unterschiedlichen theologischen Entwürfe darstellt und als Theologiegeschichte des Urchristentums klassifiziert. Dies reicht aber seiner Meinung nach nicht aus, um von ‚Theologie‘ zu sprechen. Erst wenn die verschiedenen Entwürfe aufeinander bezogen werden und nach ihrer Einheit gefragt wird, kann von ‚Theologie‘ im eigentlichen Sinn die Rede sein. Dies soll der Offenbarungsgedanke als übergeordnete Leitkategorie leisten: „Zentrale Bedeutung hat im Neuen wie im Alten Testament das Offenbarungshandeln Gottes.“ 45Mit dem Offenbarungskonzept verbinden sich aber weitreichende exegetische, theologische und erkenntnistheoretische Probleme. 1) Exegetische Probleme: Ein nur annähernd einheitliches Konzept von Offenbarung gibt es im Neuen Testament nicht; weder eine umfassende Darstellung der Kommunikationsformen zwischen Gott und Mensch, noch einen übergreifenden Begriff dafür 46. Vielmehr findet sich in den unterschiedlichen Schriftengruppen eine ganze Reihe von Termini: ἀποϰαλύπτειν; ἀποϰάλυψις; φανηροῦν; δηλοῦν; ἐπιφαίνειν; ἐπιφάνεια; ὁρᾶν; γνωρίζειν; γινώσϰειν. Mit diesen Begriffen lassen sich verschiedene Offenbarungskonzepte verbinden: Vision, Audition, Epiphanie, Parusie, Gerichtshandeln, Eingebung, Träume, Gesichte, verbale Unterweisung, kosmische Umwälzungen. Dabei fällt auf, dass im Vergleich zu den Gesamtkonzeptionen der ntl. Autoren die Frage nach der Möglichkeit und den Modi der Offenbarung/Offenbarungen Gottes eher ein Nebenthema ist. Faktisch unterwirft F. Hahn das gesamte Neue Testament (und Alte Testament) einem Offenbarungsbegriff, der sich dort in dieser überhöhten, dogmatischen Form gar nicht findet! 2) Theologische Probleme: In welcher Form kann beim Alten Testament von einer dem Neuen Testament gleichwertigen Offenbarung gesprochen werden 47? Die interpretatio christiana des AT nimmt faktisch eine radikale Reduzierung unter den Kategorien der Erwählung und Verheißung vor. Die Kriterien der Aufnahme bzw. Nichtaufnahme zentraler Aspekte des atl. Offenbarungshandelns sind völlig unklar. 3) Erkenntnistheoretische Probleme: Bei Hahn gewinnt der Offenbarungsbegriff gewissermaßen einen ontologischen Status. Dagegen ist einzuwenden: Wenn wir von Offenbarung reden, dann nehmen wir Zuschreibungen vor; wir sprechen nicht – gewissermaßen von uns selbst losgelöst – von höheren Wirklichkeiten, denen sich die Menschen zu unterwerfen hätten. Es geht also nicht einfach um Offenbarung ‚an sich‘, sondern um Konstruktionen von Offenbarung. Das Offenbarungskonzept verdankt sich zudem der Vorstellung des großen Absenders, ein Kaiser oder ein Gott tut seinen Willen kund. Heute gibt es die Metaphysik des großen Absenders nicht mehr, sondern es müssen Plausibilitäten hergestellt, Einsichten ermöglicht werden.
Die Sinnbildungen der ntl. Autoren weisen eine hohe Leistungsfähigkeit auf, denn sie konnten sich nicht nur innerhalb einer wahrhaft multi-religiösen Umwelt behaupten, sondern sie sind bis heute in einer weltgeschichtlich einmaligen Rezeptionsgeschichte gegenwärtig. Da in der Antike Religion und Philosophie nie getrennt waren, müssen die ntl. Schriften auch als denkerische Leistungen und Zeugnisse gelesen und ernst genommen werden. In ihnen werden zentrale Fragen gelingenden Lebens behandelt, d.h. das denkerische Profil der einzelnen Entwürfe muss im Vergleich mit zeitgenössischen religiös-philosophischen Entwürfen erhoben werden.
Die Orientierung an den ntl. Schriften/Autoren wirft die Frage auf, ob nicht von einer Theologie der ntl. Schriften gesprochen werden sollte. Einerseits ist die Ausrichtung an einzelnen Schriften/Autoren grundlegend, andererseits wird aber in einem entscheidenden Punkt davon abgewichen, indem die Verkündigung, das Wirken und das Geschick Jesu von Nazareth die Basis und den Ausgangspunkt der Darstellung bilden. Deshalb wird weiterhin von Theologie des Neuen Testaments gesprochen 48, womit die aus den Schriften des Neuen Testaments erhebbaren theologischen Konzeptionen gemeint sind, die über die reine Anzahl der Schriften hinausgehen.
Der Aufbau
Werden die einzelnen ntl. Schriften als Ausdruck von anschlussfähigen Sinn- und Identitätsbildungsprozessen verstanden, dann kommt einer Theologie des Neuen Testaments die Aufgabe zu, die Konstruktion dieser Sinnwelten umfassend zu erheben und darzustellen. Ausgangspunkt muss dabei Jesus von Nazareth sein, der mit seinem Wirken und seiner Verkündigung selbst eine Sinnbildung vornahm, die vor und nach Ostern weitere Sinnbildungen hervorrief, und auf den sich alle ntl. Autoren grundlegend beziehen 49. Den ersten Schwerpunkt bildet deshalb die Darstellung der Gedankenwelt Jesu; sie ist nach thematischen Fragestellungen gegliedert, die sich aus den Gewichtungen der Überlieferung ergeben. Es folgt eine primär chronologisch (und teilweise sachlich) 50angeordnete Entfaltung der Sinnwelten aller ntl. Schriften, von Paulus bis zur Offenbarung. Ziel ist es dabei, möglichst die gesamte Gedankenwelt der Autoren darzustellen. Dies soll durch Themenfelder erreicht werden, die 1) in allen Schriften zu finden sind, und die 2) die theologischen Strukturen in ihren Grundannahmen, ihrer Vielfalt und ihren gegenseitigen Vernetzungen erfassen können. Die Themenfelder sind:
1) Theologie: Welche Konsequenzen hat das Offenbarungsgeschehen in Jesus Christus für das Gottesbild? Wie ist der Gott zu denken, der in Jesus Christus seinen Willen in Kontinuität und Diskontinuität zum ersten Bund kundgetan hat?
2) Christologie: Das besondere Gottesbewusstsein des Jesus von Nazareth erforderte im Kontext seines vollmächtigen Auftretens, seiner Wundertaten und seines Geschicks in Jerusalem die Bestimmung seines Verhältnisses zu Gott, seines Wesens, seiner Funktionen und seiner Bedeutsamkeit innerhalb des mit ihm selbst einsetzenden endzeitlichen Prozesses.
3) Pneumatologie: Die neuen und nachhaltigen Geisterfahrungen der frühen Christen nötigten zu Reflexionen über die Anwesenheit und das Wirken des Göttlichen im Leben der Glaubenden.
4) Soteriologie: Von Anfang an wurde das Christusgeschehen als ein rettendes/erlösendes Ereignis verstanden; als Rettung vor dem Gericht, der Hölle/Unterwelt und dem immerwährenden Tod. Es musste im Kontext zahlreicher antiker Rettergestalten bestimmt werden, was wirklich rettet und wie sich die Rettung vollzieht.
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