Udo Schnelle - Theologie des Neuen Testaments

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Dieser Band stellt umfassend die Theologie des Neuen Testaments auf dem Stand der internationalen Forschung dar. Dem grundlegenden Abschnitt zur Verkündigung Jesu folgen umfangreiche Kapitel über Paulus, die Logienquelle, die synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte, die Deuteropaulinen, die johanneische Literatur u. a. Dabei werden in jedem Kapitel Theologie, Christologie, Pneumatologie, Soteriologie, Anthropologie, Ethik, Ekklesiologie und Eschatologie behandelt. Der Band ist nicht nur ein wissenschaftlich fundiertes Grundlagenwerk, sondern durch Inhalt und Struktur auch fächerübergreifend und für allgemein Interessierte attraktiv.

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Gegen die Annahme einer ‚Mitte‘ des Neuen Testaments ist einzuwenden, dass es sich dabei um eine unhistorische Abstraktion handelt, die den einzelnen Entwürfen in keiner Weise gerecht wird. Die Rechtfertigungslehre des Galater- und Römerbriefes oder die Versöhnungsvorstellung erfassen noch nicht einmal das Ganze der paulinischen Theologie! Wird Jesus Christus selbst als die ‚Mitte‘ bestimmt, dann ist eine solche Konzentration auf der höchsten Ebene wenig sinnvoll, weil sie für alles zutrifft und sich damit selbst aufhebt. Eine Biblische Theologie ist nicht möglich, weil 1) das Alte Testament von Jesus Christus schweigt 32, 2) die Auferstehung eines Gekreuzigten von den Toten als kontingentes Geschehen sich in keine antike Sinnbildung integrieren lässt (vgl. 1Kor 1, 23) und 3) das Alte Testament wohl der wichtigste, aber keinesfalls der einzige kulturelle/theologische Kontext ntl. Schriften ist 33. Das Christuszeugnis kann als eine Form der Pluralisierung des Alten Testaments verstanden werden, dies gilt aber ebenso für die Samaritaner, Qumran oder das rabbinische Judentum. Es gibt weder eine historisch noch theologisch notwendige Bewegung vom Alten Testament hin zum Neuen Testament, sondern nur die nachträgliche Postulierung einer solchen Entwicklung.

Gilt die Einheit des Neuen Testaments als eine eigene vom Kanon geforderte Sachaufgabe, stellen sich theoretische und praktische Probleme: Wie verhält sich die Kanonbildung zum Selbstverständnis der einzelnen Schriften, die nun einer neuen, späteren und fremden Fragestellung unterworfen werden? In welchem Verhältnis steht die Darstellung von Vielfalt und Einheit: Ist die Einheit die Schnittmenge des Verschiedenen? Vollendet sich die Vielfalt in der Einheit? Ist die Einheit die Wiederholung der Vielfalt unter verändertem Vorzeichen 34?

Kanonisierung als Zeugnis von Vielfalt und Begrenzung

Eine Beantwortung dieser Fragen muss davon ausgehen, dass der Aspekt der Vielfalt sich konsequent aus dem hier verfolgten methodischen Ansatz und dem historischen Befund ergibt: Weil alle ntl. Autoren als Erzähler und Interpreten ihre eigene Geschichte und die aktuelle Situation ihrer Gemeinde in ihre Jesus-Christus-Geschichte mit einbringen, somit ihre je eigene Sinnbildung vornehmen, gibt es ein deutliches Prae der Vielfalt und kann es die neutestamentliche Theologie im Singular gar nicht geben 35. Jede ntl. Schrift ist eine eigenständige Sprach-, Interpretations- und damit Sinnwelt, die aus sich selbst heraus verstanden werden will. Vielfalt ist nicht identisch mit grenzen- und konturloser Pluralität, sondern bezieht sich streng auf das Zeugnis der ntl. Schriften. Vielfalt gibt es im Neuen Testament nur auf einer klaren Grundlage: Die Erfahrungen mit Gottes endzeitlichem Heilshandeln an Jesus Christus in Kreuz und Auferstehung. Diese Grundlage wird in den einzelnen Schriften notwendigerweise und unausweichlich in je eigener Weise bearbeitet, wobei nicht Gegensätzlichkeit, sondern Vielgestaltigkeit vorherrscht. Zudem fragt sich, ob der Begriff der Einheit überhaupt geeignet ist, die gestellte Sachfrage zu beantworten. Einheit ist ein statischer Totalitätsbegriff, der dazu neigt, einzuebnen und zu vereinheitlichen. Schließlich ist die Frage der Einheit den ntl. Autoren fremd, sie erscheint nicht in den Texten und die Geschichte des frühen Christentums ist alles andere als die Geschichte einer einheitlichen Bewegung!

Der Kanon bildet den Endpunkt eines langen Prozesses der Kanonisierung 36; Kanonisierung wiederum ist ein natürliches und notwendiges Element von Identitätsbildung und -sicherung. Innerhalb jeder Entwicklung ist es notwendig, „die Regelungen eines bestimmten Bereiches der gesellschaftlichen Sinnproduktion durch Eingrenzung und Festlegung des Gebotenen“ 37zu bestimmen. Die Kanonisierung spricht keineswegs gegen eine Betonung der Vielfalt, denn sie ist selbst ein Zeugnis sachgemäßer Vielfalt! Der Prozess der Kanonisierung verdeutlicht, dass das Ursprungsgeschehen die Vielfalt seiner Interpretationen zugleich ermöglicht und begrenzt. Gleichzeitig bleibt es aber dabei: Die für den Prozess der Kanonisierung zentrale Frage nach Vielfalt und ihrer Begrenzung ist nicht die Frage der einzelnen ntl. Schriften! Ein Kanon ist immer ein Ende, die Kanonisierung ein anhaltender Prozess, der mit den ntl. Schriften einsetzt, nicht aber identisch ist! Zudem begründen und repräsentieren die ntl. Schriften ihren Status aus sich selbst heraus und bedürfen dafür nicht einer späteren Kanonisierung; sie kamen in ihrer überwiegenden Zahl in den Kanon, weil sie diesen Status schon besaßen und nicht umgekehrt 38. Schließlich: Eine Theologie des ntl. Kanons als eine notwendigerweise exegetische und kirchengeschichtliche Aufgabe ist etwas anderes als eine Theologie der ntl. Schriften/des Neuen Testaments. Die Anzahl und die Reihenfolge der Schriften im Kanon ist nicht das Werk der ntl. Autoren, sondern hier zeigt sich das Theologieverständnis anderer! 39Ihre Sicht setzte sich mit guten Gründen durch, sie ist aber nicht die Perspektive der einzelnen ntl. Schriften. Als Interpretationshorizont und Identitätsstifter kann der Kanon erst von dem Zeitpunkt an gelten, zu dem er in seinem Grundbestand existierte: um 180 n.Chr. Deshalb ist der Kanon gegenüber den einzelnen Schriften eine sekundäre Meta-Ebene, die weder den besonderen historischen Standort noch das spezifische theologische Profil einer ntl. Schrift wirklich erfassen kann und auch nicht die entscheidende Frage beantwortet, welchen Beitrag ein Autor für die frühchristliche Identitätsbildung liefert.

Als natürliches und historisch wie theologisch betrachtet überaus sachgemäßes Ergebnis eines jahrhundertlangen Formierungs- und Selektionsprozesses ist der ntl. Kanon eine geschichtliche Realität, die den Umfang des zu behandelnden Stoffes bestimmt.

2.4Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung

Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich der methodische Ansatz und der Aufbau dieser Theologie des Neuen Testaments.

Der methodische Ansatz

Die Schriften des Neuen Testaments sind das Resultat einer umfassenden und vielschichtigen Sinnbildung. Weil religiöse Erfahrungen von Gruppen oder Einzelpersonen immer Sinnbildungsprozesse auslösen, die in Erzählungen und Rituale und damit auch in Textbildung überführt werden, um kommunizierbar zu sein, waren angesichts von Kreuz und Auferstehung Sinnbildungsleistungen unabwendbar. Ein Erschließungsereignis wie die Auferstehung des Jesus von Nazareth von den Toten fordert Erschließungsleistungen! Alle frühchristlichen Autoren standen vor der Aufgabe, das Einmalige und Außerordentliche von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu überführen, womit sie auch eine bedeutsame Denkleistung vollbrachten. Indem sie die Geschichte des Jesus Christus in bestimmter Weise erzählen und deuten, nehmen sie Zuschreibungen und Statusbestimmungen vor, sie schreiben Geschichte und konstruieren eine eigene neue religiöse Welt 40. Dabei vermeiden alle Autoren des Neuen Testaments die historisch wie sachlich unangemessene Alternative zwischen einer Faktengeschichte des irdischen Jesus und einer davon abgelösten abstrakten Kerygma-Christologie. Vielmehr kommt bei ihnen die Geschichte des irdischen Jesus aus der Perspektive der durch den Auferstandenen geschaffenen gegenwärtigen Heilswirklichkeit in den Blick.

Die neue religiöse Welt ist immer auch Ausdruck der spezifischen historischen und kulturellen Situation, in der die ntl. Autoren lebten und wirkten. Sie waren eingebunden in vielfältige kulturelle und politische Kontexte, die durch ihre Herkunft, ihr aktuelles Wirkungsfeld, ihre Rezipienten und die religiös-philosophischen Debatten der Zeit bestimmt waren. Religionen existieren ebenso wenig wie Kulturen je individuell für sich, vielmehr sind sie immer in Relationen eingebunden. Dies gilt umso mehr für eine neue Bewegung wie das frühe Christentum, das um seiner Anschlussfähigkeit willen bewusst Relationen aufbauen musste. Anschlussfähigkeit ergibt sich nicht von selbst, sondern muss bewusst hergestellt werden. Entscheidend ist dabei die Fähigkeit von Sinnbildungen und der Bildung neuer Identitäten. Die Herausbildung einer Identität vollzieht sich immer unter dem Einfluss eines kulturellen Umfeldes bzw. kultureller Umfelder. Dabei ist das ethnische Identitätsbewusstsein wesentlich durch objektivierbare Merkmale wie Sprache, Abstammung, Religion und daraus hervorgegangener Traditionen bestimmt. Traditionen wiederum sind Ausdruck einer kulturellen Formung durch Texte, Riten und Symbole 41. Obwohl sich Identitätsbildung in der Regel innerhalb eines so geprägten Rahmens vollzieht, hat sie immer Prozesscharakter, ist fließend und an sich ändernde Situationen gebunden 42. Wenn sich zudem Kulturräume überlagern, kann sich eine Identität nur erfolgreich ausbilden, wenn sie verschiedenartige Einflüsse aufzunehmen und zu integrieren vermag. Eindeutigkeit und Durchlässigkeit sind gleichermaßen Voraussetzungen für gelungene kulturelle Neuformungen. Anschlussfähigkeit ließ sich innerhalb der komplexen kulturellen Vielschichtigkeit des Imperium Romanum für die frühchristliche Mission nur erreichen, weil sie in der Lage war, verschiedene kulturelle Traditionen in sich aufzunehmen und schöpferisch weiterzuentwickeln: das Alte Testament, das hellenistische Judentum und die griechisch-römische Kultur. Schließlich vollziehen sich Sinnbildungen immer in (wechselnden) politischen Kontexten, die in den einzelnen ntl. Schriften in sehr unterschiedlicher Weise zum Thema gemacht werden. Speziell der Kaiserkult als politische Religion (s.u. 9.1) konnte nicht unthematisiert bleiben. Der Umgang mit ihm reicht von offener Konfrontation und Auseinandersetzung (Offb/1Petr), über symbolische Überbietungen und/oder deutliche Anspielungen (Paulus/Markus/Lukas/Johannes/Kol/Eph) bis hin zum Schweigen (Hebr/Jak/1.2Tim/Tit/2Petr/Jud).

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