1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Die Sprachmischung hängt zudem mit der Frage nach der Beziehung zwischen den beiden sich im Kind entwickelnden Sprachen zusammen. Diese Frage monopolisierte die Forschung ab den 1970er Jahren. Drei Optionen (Müller et al. 2011, 97–119; Patuto 2012, 57; Yip 2013, 123) wurden im Laufe der Jahrzehnte diskutiert: ein einziges, hybrides Sprachsystem in der Anfangsphase des Spracherwerbs; antithetisch dazu zwei vollkommen getrennte Sprachsysteme von Anfang an; sozusagen als Synthese getrennte Sprachsysteme mit beschränkter Interaktion. Während in den 1970er Jahren und Anfang der 1980er Jahre vor allem die erste Option ins Auge gefasst wurde, fand ab Mitte der 1980er Jahre die zweite Option die meisten Befürworter. Man diskutierte über den Zeitpunkt, ab dem bilinguale Kinder zwei getrennte und autonome Sprachsysteme aufbauen. Heute steht in erster Linie die dritte Möglichkeit zur Debatte (Serratrice 2013, 87). Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass gebrauchsbasierte und konstruktivistische Spracherwerbstheorien den Begriff des Systems als geeignete Kategorie zur Beschreibung der frühkindlichen Sprache prinzipiell in Frage stellen.
Wenn man vom Input spricht, sollte man die in Abschnitt 2.5angesprochene artifizielle Bilingualität nicht vergessen, also eine kommunikative Konstellation, in der sich die Eltern – beide oder nur ein Elternteil – konsequent in einer von ihnen sehr gut beherrschten Zweitsprache, also in einer Fremdsprache, an das Kind richten. Sie ist, wie wir gesehen haben, in der heutigen Zeit gar nicht so selten anzutreffen, wie Akinci, De Ruiter und Sanagustin (2004) zeigen. Die Entwicklung des Wortschatzes stellt im monolingualen wie auch im bilingualen Erstspracherwerb ein zentrales Forschungsthema dar. Im bilingualen Erwerb stellt sich zusätzlich die Frage nach den interlingualen Synonymen oder Äquivalenten. Verfügen bilinguale Kinder über Wörter in beiden Sprachen, die jeweils die gleiche Bedeutung haben? Wie und ab wann werden diese erworben? Werden diese Bedeutungen von den Kindern als gleich empfunden oder besteht die Übereinstimmung nur in der Erwachsenensprache? Die Beantwortung dieser Fragen hat Auswirkungen auf die eben angesprochene Diskussion über ein hybrides Sprachsystem, denn die Existenz von Äquivalenten ist zweifelsohne ein Indiz für zwei getrennte Sprachsysteme.
Wenn Sprecher und Sprecherinnen unterschiedlicher Sprachen regelmäßig und für längere Zeit interagieren, spricht man von Sprachkontakt. Die Einsicht, dass sich dieser Kontakt nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, sondern im Grunde auch innerhalb eines Individuums abspielen kann, finden wir schon in Weinreich (1953). Hinter jeder Form des gesellschaftlichen Bilingualismus steht ein bestimmtes Maß an individueller Bilingualität. Romaine (1996, 573) unterstreicht daher, dass „[...] the bilingual individual is the ultimate locus of language contact“ ‚[...] das bilinguale Individuum ist der eigentliche Ort des Sprachkontaktes‘. Das Aufeinandertreffen von zwei Sprachen führt immer zu Sprachkontaktphänomenen, beispielsweise zu Sprachmischung.
Bis heute beschäftigt sich die Kontaktlinguistik vornehmlich mit dem Sprachkontakt auf der gesellschaftlichen Ebene. Dessen Rolle bei Sprachwandel und Grammatikalisierung ist gut erforscht. Seine Wichtigkeit ist unumstritten und bedarf keiner besonderen Ausführungen mehr. Dazu gibt es eine Vielzahl historischer und aktueller Beispiele (z. B. Heine und Kuteva 2005). Länger andauernder Sprachkontakt kann zu einer gegenseitigen Beeinflussung von Sprachen und einer Reihe von gemeinsamen Merkmalen führen. Wenn diese strukturellen und lexikalischen Gemeinsamkeiten mehrere genetisch nur entfernt oder gar nicht verwandte Sprachen betreffen, die aber geografisch benachbart sind, spricht man von Sprachbund. Die Entstehung des Balkansprachbundes (Albanisch, Bulgarisch, Mazedonisch und Rumänisch) ist nur durch den Bilingualismus (und die Bilingualität) erklärbar, zu der die ursprüngliche nomadische Lebensform, die periodischen Wanderungen der Hirten und die gemeinsamen Handelsplätze der Balkanvölker führten (Schaller 1975, 109–120). Intensiver Sprachkontakt kann so weitreichende strukturelle Veränderungen beinhalten, dass er zur Bildung eines Pidgin, sprich zu einer Handels-, Verkehrs- oder Mischsprache führt. Wenn diese Sprache an die nächsten Generationen weitergegeben und dadurch deren Erstsprache wird, kann man von der Entstehung einer neuen Sprache sprechen. Diese wird üblicherweise Kreolisch genannt.
Erst in den letzten Jahren stellt man sich verstärkt die Frage, wie der kontaktinduzierte Sprachwandel letztlich durch das sprachliche Verhalten von Individuen hervorgerufen wird und welche Parallelen zwischen dem gesellschaftlichen Sprachkontakt und dem individuellen Sprachkontakt existieren. Inwiefern sind die Erkenntnisse der Kontaktlinguistik auf den individuellen Sprachkontakt und die Bilingualität übertragbar und umgekehrt? Uns interessiert vor allem die Frage, wie diese Erkenntnisse für die Erforschung der frühkindlichen Bilingualität fruchtbar gemacht werden können. Ein Ergebnis dieses Austausches liegt schon vor: Die Beschreibung und Systematisierung der Sprachmischung speist sich aus beiden Richtungen. Yip und Matthews (2007, 227–254) widmen den Parallelen zwischen frühkindlichen und individuellen Sprachkontakterscheinungen auf der einen Seite und gesellschaftlichen Sprachkontakterscheinungen und Sprachwandel auf der anderen Seite ein ganzes Kapitel. Sie stellen im Englischen der von ihnen untersuchten Kinder Phänomene fest, die auf den Einfluss des Kantonesischen zurückzuführen sind. Ähnliche Phänomene kann man in chinesisch-englischen Kontaktsprachen, wie dem Chinese pidgin English oder dem Singapore colloquial English, beobachten.
Bis zu Beginn der 1960er Jahre wurde Zweisprachigkeit in der pädagogischen Literatur sehr negativ bewertet (Leopold 1949a, 187; Adler 1977, 40; McLaughlin 1978, 77 f., 168 f.; Hakuta 1986, 16–33, 59–65; Lebrun und Paradis 1984, 9 f.; Kielhöfer und Jonekeit 1995, 9, 19; Döpke 1997, 95). Vor allem zwei vermeintliche Nachteile der Bilingualität wurden unterstrichen: Zweisprachige Kinder würden erstens öfter stottern als einsprachige und hätten zweitens eine verspätete kognitive Entwicklung, was zu einer verminderten Intelligenz führen könnte. Einige frühe Studien setzten in der Tat Zweisprachigkeit mit Stottern in Verbindung. Pichon und Borel-Maisonny (1937) stellten fest, dass 14 % ihrer stotternden Patienten zweisprachig waren. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Travis, Johnson und Shover (1937). Die Ansicht, dass Zweisprachigkeit nachteilige Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung haben kann, beruht ebenfalls auf frühen Studien aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Ein bekanntes Beispiel für eine solche Studie ist diejenige von Saer (1923). In ihr wurden ein- und zweisprachige Kinder aus Wales mittels Tests bezüglich ihrer Intelligenz untersucht. Die einsprachigen Kinder wiesen einen höheren Intelligenzquotienten auf. In späteren Jahren wurde jedoch klar, dass bei Miteinbeziehung des sozioökonomischen und regionalen Hintergrundes und der Verabreichung nicht-verbaler Tests diese Ergebnisse hinterfragt werden müssen und ihre Schlussfolgerungen nicht haltbar sind.
3.2 Hypothesen
In den letzten Jahrzehnten wurde in der Forschung eine Reihe von Hypothesen und Erklärungsmodellen vorgeschlagen. Einige davon betreffen speziell den bilingualen Erstspracherwerb, andere stammen aus affinen Forschungsbereichen, haben jedoch bedeutende Auswirkung auf den bilingualen Erstspracherwerb.
Eine Hypothese des letzteren Typs ist die critical period hypothesis. Die Hypothese betrifft den Spracherwerb im Allgemeinen und stellt, obwohl selbst nur eine Annahme, eines der Hauptargumente für die Nativismushypothese dar, also für die Annahme, die sprachliche Entwicklung des Menschen wäre in ihren wesentlichen Zügen durch eine angeborene Sprachfähigkeit bestimmt. Die Hypothese hat zwei unterschiedliche Ausformungen (Pallier 2007, 155). Sie kann einerseits ganz allgemein bedeuten, dass die Menschen in den ersten Lebensjahren effizientere Sprachlerner sind. In ihrer zweiten, spezifischeren Form kann sie bedeuten, dass die altersbedingte Abnahme der neuronalen Plastizität für die abnehmende Spracherwerbsfähigkeit verantwortlich ist. Die beiden Ausformungen der Hypothese müssen deshalb unterschieden werden, weil eine kritische Periode in der ersten Ausformung auch dann bestehen kann, wenn ihre Erklärung durch die abnehmende neuronale Plastizität falsch ist.
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