Die Möglichkeit einer Antwort auf die Wozu-Frage scheint mir aus sachlichen Gründen begrenzt zu sein. Das folgt gewissermaßen aus der Grammatik der Frage, die zuerst der Klärung bedarf. Jede Frage motiviert sich durch eine bestimmte Fragesituation und enthält implizit Voraussetzungen, die ihrerseits bestimmte Antworten implizieren. Wozu-Fragen sind uns aus dem Alltagsleben vertraut. Sie werden gewöhnlich damit beantwortet, dass man entweder den Zweck von etwas angibt, was man tut, oder das Tun als Mittel versteht, um einen Zweck zu erreichen. Wir wollen diese Art von Fragen teleologische Fragen nennen. Danach ist Philosophieren ein Handeln, das grundsätzlich durch Vorerwartungen seiner Relevanz und unter Benutzung dieser Erwartung als Bedingung oder Mittel für rational erstrebte Zwecke oder Zweckzusammenhänge bestimmt ist.
Teleologische Fragen und Vorerwartungen einer Zweck-Mittel-Rationalität gibt es nicht erst seit heute. Wir begegnen ihnen im ältesten Anfang der Philosophie. Nach der Legende soll Thales, der zuerst hinter dem Wechsel des Vielen Einheit gewahrt und diese ins Wasser gesetzt hatte, statt Wasser zu schöpfen, in den Brunnen gefallen sein. Thales war Geometer und Astronom, der alles, was in den Tiefen der Erde und in der Höhe des Himmels ist, gemessen und dabei das Nächstliegende übersehen hat. Um Thales’ Gestalt rankt sich jedoch neben der Geschichte vom Brunnenfall und dem daran anschließenden Gelächter der Wasser holenden Magd eine weitere Legende: Er soll, von Bürgern seiner Vaterstadt mit der Nachrede provoziert, seine Armut beweise die Praxisferne der Philosophie, unter zweckrationaler Einsetzung astronomischer und ökonomischer Daten eine gute Olivenernte vorausgesehen, alle Ölpressen in Milet gemietet und durch Weitervermietung in der Erntezeit ein schwerreicher Mann geworden sein. Aristoteles, der diese Geschichte erzählt, fügt hinzu: Thales habe damit gezeigt, wie leicht den Philosophen der Gegenbeweis fällt, dass dies aber eben nicht Sache der Philosophie sei (Politik I 11, 1259a 5–8). Dies ist eine frühe Apologie – eine Verteidigung der Philosophie gegenüber der Ignoranz der Welt. Mit seiner großen ‚Apologie‘ wird Sokrates sich gegenüber der Bürgerschaft von Athen als Philosoph erweisen. [<<12]
Apologien dieser Art entspringen Fragen, die dem Philosophieren von außen gestellt und nach außen hin beantwortet werden. Wir könnten hier auch von pragmatischen Fragen sprechen. Obwohl sie seinen Gang von Anbeginn begleiten, treten sie innerhalb der Philosophie erst dann auf, wenn sie ihre Sache verfehlt oder sich zum Schuldogma verfestigt haben. In unserem Kulturkreis – die asiatischen Hochkulturen kennen ähnliche Erscheinungen – geschieht dies in den spätantiken Philosophenzirkeln, die das Christentum auflöst, in der Schulphilosophie der frühen Neuzeit, die sich dem geschichtlich neuartigen Typ der Erfahrungswissenschaften verschließt, und schließlich – mutatis mutandis – nach der spekulativen Erschöpfung der antik-christlichen Lehrtradition in Hegels Philosophie. Was das „Ziel“ und der „Zweck“ der Philosophie sei, – dies ist die Frage der griechisch-römischen Denker von Epikur bis Seneca an Platon und Aristoteles, der Märtyrer und Väter des frühen Christentums von Justin bis Augustin an die antiken Philosophenschulen, von Galilei und Bacon an die Scholastik, von Marx an Hegel, von Wittgenstein an Russel. Und die Antwort lautet: das Wohl der Seele, die Eudämonie des Einzelnen statt bloßer Theorie (so bei Epikur), der Glaube statt eudämonistischer Seelentechnik (so bei Augustin), Beherrschung der Natur statt bloßer Glaubenslehre (so bei Bacon), Weltveränderung statt Interpretation der Welt.
Mit der Hegel-Kritik von Marx wechselt freilich die Grammatik der Wozu-Frage den semantischen Kontext. Aus der 11. These über Feuerbach – „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“ – hat Marx bekanntlich weiter gefolgert, dass Philosophie als universalhermeneutische Vernunftinterpretation im Sinne Hegels abgeschlossen und vollendet, ihr Anspruch einer vernünftig geordneten Welt aber erst noch praktisch zu verwirklichen sei. Weltveränderung, der Zweck von Wissenschaft und Industrie, setzt nicht mehr philosophische Theorie, sondern revolutionäre Politik und Sozialwissenschaft – die Kritik der politischen Ökonomie – voraus.
Marx’ Folgerung ist, makrohistorisch gesehen, eine Variante des ursprünglich positivistischen Geschichts- und Wissenschaftsbegriffs, wonach Philosophie den Mythos ablöst, bis sie ihrerseits durch Wissenschaft überwunden wird. Dem folgt Auguste Comtes Dreistadienlehre [<<13] mit der Aufeinanderfolge von mythischem – metaphysischem (also philosophischem) – und wissenschaftlichem Denken. Positivistische wie dialektische Geschichtsphilosophie – auf die Unterschiede gehe ich nicht näher ein – sind dabei nicht nur an pragmatischen Zweckbegriffen, sondern am Begriff von einem Endzweck im Sinne eines „Äußersten“ und „Letzten“ orientiert. Indem sie behaupten, dass Philosophie im Anderen der Wissenschaft und der ihr zugehörigen Gesellschaft sich aufhebt, verkünden sie das zeitliche Ende der Philosophie. Ihr Ende, so erläutert der späte Martin Heidegger, ein Denker, der sich selbst nicht mehr als Philosoph versteht, „zeigt sich als der Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung. Ende der Philosophie heißt: Beginn der im abendländisch-europäischen Denken gegründeten Weltzivilisation.“1
Wir untersuchen zunächst nicht den sachlichen Kern dieser historischen Aussage, sondern fragen: Was ist eigentlich sprachlich gemeint, wenn von einer Sache behauptet wird, sie gehe zu Ende? In der Umgangssprache heißt „Ende“ nicht nur so viel wie „Aufhören“ und „Verschwinden“, sondern „Ort“. Von einem Ende zum anderen gehen heißt: der Gang von einem Ort zum andern. Wer von einem Ende der Stadt zum anderen geht, bleibt damit noch innerhalb derselben Stadt, wer in fremde Länder reist, verlässt damit noch nicht den Erdball. Obwohl sich auch Heidegger auf diesen Sprachgebrauch ausdrücklich bezieht, spricht er dem Wort „Ende“ im Sinne von „Ort“ eine andere („a-topische“) Bedeutung zu. Die Rede vom „Ende der Philosophie“ bezeichnet nach Heidegger einen „letzten Ort“, nämlich „dasjenige, worin sich das Ganze ihrer Geschichte in seine äußerste Möglichkeit versammelt“, die „Vollendung“ der Philosophie durch „Aufhebung“ in einem Anderen ihrer selbst. Wir können hier von einer dysteleologischen Bedeutung sprechen. In diesem Kontext – und nur in ihm – gewinnt die teleologische Frage die durch Enderwartung verschärfte Fassung: wozu noch Philosophie? [<<14]
Es ist die Frage, die während der Sechzigerjahre neben dem Denker der Seinsgeschichte vor allem die kritische Theorie, das Denken von Adorno und danach von Habermas in Bewegung gehalten hat. Wer so fragt, setzt den Satz vom „Ende der Philosophie“ voraus; er geht davon aus, dass im Zeitalter der Wissenschaft und Industrie die Zeit des Philosophierens abgelaufen und vorbei ist. Philosophie, so heißt es dialektisch-negativ beim späten Adorno, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Die Philosophie, sagt Heidegger, endet im gegenwärtigen Zeitalter. Sie hat ihren Ort in der Wissenschaftlichkeit des gesellschaftlich handelnden Menschen gefunden. Die parallelen Antworten der Antipoden deutscher Nachkriegsphilosophie überschneiden sich im Verzicht auf apologetische Rede. Sie gebrauchen dafür Sprechweisen der Eschatologie. Lässt sich, was Philosophie ist, in einem Augenblick verwirklichen?
„Eschatologie“ ist nach theologischem Sprachgebrauch die Lehre von den „letzten Dingen“ – von der großen Katastrophe, die, wenn sie „radikal“ oder die „letzte“ ist, Philosophie mit einschließt. Gott hält Gericht über seine Geschöpfe. Die Schöpfung wird zertrümmert, ein neuer Himmel, eine neue Erde geschaffen. Die Katastrophe ist die Vorstufe zum Heil. Auch die Philosophie ist eine Lehre von den letzten Dingen, nämlich die theoretische Beschäftigung mit den letztlich grundlegenden Dingen, die dem Menschen zu wissen möglich sind. Aber die These der Philosophie lautet: Von diesem Wissen müssen wir uns theoretisch Rechenschaft geben können, wir müssen den Grund seiner Möglichkeit untersuchen. Die Rede vom „Letzten“ ist Denkern, wenn sie nur radikal genug, das heißt Philosophen sind, die diesen Namen verdienen, nicht fremd. Radikale mögen, frei nach Marx, Leute heißen, die eine Sache an der Wurzel fassen, und die Wurzel – das ist für Philosophen die Möglichkeit des Begreifens, „der Begriff“. Philosophisch radikal sein heißt, jede Behauptung, eschatologische Rede nicht ausgenommen, auf ihre Begreiflichkeit hin überprüfen. Zu fragen wäre demnach: Wie kann man es wissen, dass Philosophie mit dem Übergang zur Moderne untergeht? Oder anders ausgedrückt: Wie ist eine Geschichte a priori möglich? Wenn ich es richtig sehe: durch Geschichtsphilosophie, indem man eine selber philosophische These aufstellt, die These vom Ende der Philosophie, [<<15] oder das Diktum Adornos, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch. Was besagt aber diese These? Oder mit Kant weitergefragt: Was will man hier eigentlich wissen, wenn man das zeitliche Ende der Philosophie prophezeit? Offensichtlich genügt es nicht zu wissen, ob diese oder jene Zeit des Philosophierens abgeschlossen und vollendet, dass Philosophie in ein „Anderes“ ihrer selbst umgeschlagen ist. Wir wollen wissen, ob es zum Begriff der Philosophie gehört, je in der Zeit zu enden oder sich in anderer Gestalt, in Wissenschaft und Technik, in Kunst, Religion und Politik zu erfüllen.
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