In Böhmen gab es nämlich schon hundert Jahre vor der Publikation der lutherschen Ablassthesen Nichtkatholiken. Ein Prager Prediger, Jan Hus, fand mit seinen kirchenkritischen, in manchem die lutherische Reformation vorwegnehmenden Ansichten begeisterte Zustimmung. 1414 wurde er zum Konzil nach Konstanz geladen, mit einem Geleitbrief, der ungestörtes Reisen und ungehinderte Anhörung in Konstanz garantierte – und doch wurde er dort, am Bodensee, verhaftet und verbrannt. Jan Hus ist tot – der Hussitismus setzt sich in Böhmen weitgehend durch. Übrigens sah der damalige Kampf um Prag einen „Fenstersturz“: Einige reformunwillige Ratsherren stürzten in den Burggraben. Die Hussiten gewannen in Prag und anderswo, [<<61] genauer: ihr gemäßigter Flügel, die sogenannten „Utraquisten“. Es ging keine Sprengwirkung davon aus, die Bewegung, pointiert tschechisch von Anfang an, expandierte nicht in andere Teile Europas – anders als hundert Jahre später das Luthertum, dann der Calvinismus. Aber geschlossen „römisch-katholisch“ war Böhmen schon hundert Jahre vor Luther nicht mehr.
Böhmen als Bestandteil der habsburgischen Composite Monarchy
Freilich kam das Land dann in die Hände einer erzkatholischen Dynastie: der Habsburger. Im Jahr 1526 fiel der letzte Jagiellonenkönig im Kampf gegen das Osmanische Reich. Die Habsburger erhoben Erbansprüche auf die Kronen Ungarns und Böhmens, die Stefans- wie die Wenzelskrone. Den Anspruch auf Ungarn konnten sie nur zum kleinen Teil realisieren, sie regierten einen schmalen westlichen Gebietsstreifen, den Rest besetzte das Osmanische Reich. Mit der Stefanskrone hat das Haus Habsburg die welthistorische Aufgabe geerbt, das christliche Abendland gegen einen immer wieder die Expansion suchenden Islam zu verteidigen. Genau deshalb wird es in den nächsten beiden Jahrhunderten wieder und wieder den Kaiser stellen: In kurfürstlichen Wahlgutachten steht stets dieser Gesichtspunkt (wer kann das Alte Reich am wirkungsvollsten vor dem islamischen „Türken“ schützen?) im Zentrum.
Zu den Ländern der Wenzelskrone gehörte Böhmen. Dieses Königreich war nun habsburgisch, geschlossen römisch-katholisch wurde es deshalb (wie wir soeben schon sahen) noch lange nicht. Im Gegenteil, zu den alten hussitischen traten neue lutherische, später calvinistische Einflüsse. Mit der „Confessio Bohemica“ gaben sich die verschiedenen nichtkatholischen Bewegungen 1575 eine gemeinsame Rahmenordnung. Sie sollte politische Verhandlungen mit der Landesobrigkeit erleichtern, also politisch und nach außen wirksam sein, nicht die konfessionellen Binnenunterschiede einebnen.
Lang musste Habsburg zusehen, aber nicht ewig. Die Habsburgerlande gehörten zu denjenigen Gebieten, in denen der nachtridentinische Kampfkatholizismus seit den 1570er-Jahren am frühesten und entschiedensten Terrain zurückeroberte.
„Die Habsburgerlande“: Warum steht das hier im Plural? Nun, es handelt sich um eine „composite monarchy“. Solche „dynastische Unionen von Ständestaaten“ (wie der ältere deutsche Ausdruck hierfür lautet) waren im vormodernen Europa nicht untypisch: Territorien mit [<<62] ganz unterschiedlichen kulturellen Traditionen und administrativen Strukturen werden auf der obersten staatsrechtlichen Ebene dadurch verklammert, dass sie von Mitgliedern ein und derselben Dynastie regiert werden. Im zuletzt gestreiften Zeitraum der habsburgischen Gegenreformation gab es fast durchgehend drei regierende Habsburger, dementsprechend drei größere Happen vom Gesamtbesitz, die jeweils in sich mehrere historische Landschaften vereinten. Erstens sprach man von „Niederösterreich“ – meinte: die Erzherzogtümer Österreich ob der Enns (Hauptort Linz) und unter der Enns; Regierungssitz war Wien. Der dort residierende Erzherzog regierte außerdem, unter der Wenzelskrone, die böhmischen Länder: das Königreich Böhmen, die Markgrafschaft Mähren, das Herzogtum Schlesien, die Markgrafschaften Nieder- und Oberlausitz. Und er regierte ferner, unter der Stefanskrone, das „Königliche Ungarn“ (also jenen schmalen westlichen Teil von Ungarn, der nicht vom Osmanischen Reich besetzt war). Zweitens gab es „Innerösterreich“: die Herzogtümer Steiermark, Kärnten, Krain und einige kleinere Gebiete wie die Grafschaft Görz oder die Markgrafschaft Istrien, Regierungssitz war Graz. In unserem Zeitraum regierte sodann fast immer, und zwar von Innsbruck aus, ein weiterer, dritter Habsburger Oberösterreich (dessen Kernland Tirol war) sowie Vorderösterreich (also den Streubesitz im heutigen Oberschwaben sowie den Breisgau).
Energische habsburgische Gegenreformation
In fast allen Landesteilen (am wenigsten in Oberösterreich) fanden evangelische Anschauungen zeitweise großen Anklang. In den späten 1570er-Jahren setzte indes die habsburgische Gegenreformation ein. Sie zeitigte insgesamt große Erfolge, am durchschlagendsten in Innerösterreich; auch in Böhmen erstarkte der Katholizismus unübersehbar. Dann freilich schienen mehrere Turbulenzen die habsburgischen Terraingewinne infrage zu stellen: der Lange Türkenkrieg (1593–1606), der Bocskay-Aufstand sowie der „Bruderzwist“ im Hause Habsburg. Damit bewegen wir uns endlich wieder in den Jahren um und nach 1600.
1.5.2 Der „Bruderzwist“ im Hause Habsburg
Die Probleme: Langer Türkenkrieg, Aufstand in Ungarn
Es hat die energische habsburgische Gegenreformation zunächst begünstigt, dass gerade keine gezielten osmanischen Expansionsversuche abzuwehren waren – also ‚lediglich‘ die notorischen kleineren [<<63] Grenzscharmützel. Aber seit 1593 band die Türkenfront wieder erhebliche Mittel. In ihrem Rekatholisierungseifer verprellte die rudolfinische Regierung die von Truppendurchmärschen, türkischer Streifzüge wegen, aber auch finanziell ohnehin schon schwer belasteten Untertanen im Königlichen Ungarn, die sich schließlich von Habsburg abwandten, in einem lockeren Vasallenverhältnis zur Pforte das kleinere Übel sahen: Bocskay-Aufstand (1604–1606), es droht eine Sezessionsbewegung weg von Habsburg.
Das ist der Anlass für die Eskalation des „Bruderzwists“ im Hause Habsburg. Die altertümlich klingende Bezeichnung geht auf den wahrscheinlich bedeutendsten österreichischen Dramatiker zurück, auf Franz Grillparzer, und sein nach einhelligem Urteil der Literaturgeschichten wichtigstes, 1848 niedergeschriebenes Drama „Ein Bruderzwist in Habsburg“. Es handelt sich, auf der Bühne wie in der Realität des frühen 17. Jahrhunderts, um einen in den äußeren Abläufen verwickelten Streit zwischen Rudolf und den anderen führenden Habsburgern, so insbesondere Maximilian, Matthias und Ferdinand. Die zuletzt Genannten werden dann ja übrigens nacheinander die beiden Nachfolger Rudolfs als Kaiser sein.
Die Sorge: Rudolf sei diesen Herausforderungen nicht gewachsen
Der „Bruderzwist“ erwuchs, ganz allgemein formuliert, der Furcht der anderen maßgeblichen Habsburger, Rudolf verspiele die Position der Dynastie in Europa, sei insbesondere der Türkengefahr nicht gewachsen. Man bekam ja an den anderen habsburgischen Residenzen mit, wie es um Rudolfs Gesundheit, auch seine geistige und psychische, bestellt war. Alle Einzelheiten sind für uns entbehrlich; die Eskalation der längst notorischen untergründigen Spannungen leitete der Bocskay-Aufstand ein. Rudolf sah sich genötigt, Matthias zu seinem Statthalter in Ungarn zu ernennen. Er konnte damit nicht mehr verhindern, dass ihm die Brüder im Wiener Abkommen vom April 1606 die Regierungsfähigkeit absprachen; sie erklärten Matthias zum Chef des Hauses und beauftragten ihn, Frieden sowohl mit dem Führer der ungarischen Aufständischen, István Bocskay, als auch mit den Türken zu schließen.
Friedensschlüsse von Wien und Tzvita-Torok
Beides gelang Matthias noch 1606. Der Frieden von Wien mit den ungarischen Aufständischen gewährte große ständische und konfessionelle Freiräume, was den Oppositionsgeist auch der Stände der anderen habsburgischen Länder anstacheln musste; anstelle seines von [<<64] den Ständen abgelehnten Bruders übernahm Matthias die Leitung der Regierung in Ungarn. Der Frieden von Zvita-Torok beendete 1606 den Langen Türkenkrieg. Das ist nicht nur wegen des „Bruderzwists“ wichtig: Denn der Frieden wird währen, über ein halbes Jahrhundert lang, die vordem so bedrängende Sorge vor „türkischen“ Heereszügen konnte zur Memoria verblassen. Und: man stelle sich vor, die Osmanen hätten im Dreißigjährigen Krieg mitgemischt! Aber es sind auch desintegrierende Effekte plausibel (die sich den Zeitgenossen nicht erschließen konnten). Fiel da mit einer gewissen Stabilisierung der Türkengrenze nicht auch Einigungsdruck weg? Entfiel da ein Gefahrenszenario, das bislang dazu animiert hatte, sich an Reichstagen, über allen konfessionellen Hader hinweg, doch am Ende irgendwie zusammenzuraufen und dem Kaiser seine Reichssteuer zu bewilligen, weil die Notwendigkeit, sich dem expansiven Islam entgegenzustemmen, ja auch allen Protestanten einleuchtete? Ist das Fiasko des Reichstags von 1608 auch vor diesen Hintergrund zu stellen?
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