Ein brisanter Erbfolgestreit am Niederrhein
Um was handelt es sich da, worum ging es? Zunächst einmal um ein Länderkonglomerat, das nur die Dynastie zusammenhielt: drei Herzogtümer (Jülich, Kleve, Berg) und zwei Grafschaften (Mark, Ravensberg). Warum war, und das seit Langem, Streit abzusehen? Weil Johann Wilhelm, nominell seit 1592 Herr über die vereinigten [<<47] niederrheinischen Herzogtümer, kinderlos war und das auch bleiben würde – er galt als geistig umnachtet, debil: Lange Jahre war da ein brisanter Erbfall abzusehen, alle möglichen Prätendenten konnten in den Archiven schürfen lassen und ihre Ansprüche begründen. Warum aber war der absehbare Erbstreit so brisant? Nun, zum einen waren die niederrheinischen Herzogtümer konfessionell gemischt – ein um 1600 schon selten gewordener Sachverhalt. Die Konfessionenkarte war hier noch gesprenkelt, die fraglichen Territorien waren, um es in der korrekten Fachterminologie auszudrücken, noch nicht „konfessionalisiert“. Als eines der letzten noch nicht definitiv zwischen den Religionsparteien ‚verteilten‘ Gebiete waren die niederrheinischen Herzogtümer schon reichsintern einiger Aufmerksamkeit sicher.
Aber sie ‚genossen‘ auch höchste internationale Aufmerksamkeit. Denn die benachbarten niederländischen Nordprovinzen um Holland und Seeland hatten sich seit 1568 jahrzehntelang Sezessionskämpfe mit der Madrider Zentrale und ihrer Brüsseler Statthalterregierung geliefert – zwar war dann 1609 ein zwölfjähriger Waffenstillstand zustande gekommen, traditionell verfeindet waren und blieben Spanien und seine separatistisch eingestellten Nordprovinzen allemal. (Wir werden diesem Konfliktherd noch wiederholt begegnen; tatsächlich werden die Kampftätigkeiten zwischen Madrid und Den Haag 1621 weitergehen, und zumal in seiner Spätphase wird sich der deutsche Dreißigjährige immer wieder mit dem niederländischen Achtzigjährigen Krieg verknäueln; die westfälischen Friedensverhandlungen werden beide Kriege beenden, und in ihrem Kontext, in Kapitel 5.6, wird dieses Studienbüchlein denn auch resümierend auf den Achtzigjährigen Krieg seit 1568 zurückblicken.) Natürlich wünschten sich die separatistischen niederländischen Nordprovinzen im Osten einen protestantischen Nachbarn, die habsburgtreuen südlicheren Provinzen – ungefähr das, was wir heute als Belgien kennen – aber einen katholischen. Habsburg wollte seine Position am Niederrhein ausbauen und der ewige Rivale Habsburgs in Europa, Frankreich, suchte dies zu verhindern. Die geostrategischen Gegebenheiten verliehen dem vorhersehbaren Erbstreit europäisches Gewicht.
Die Union lässt sich in den niederrheinischen Konflikt hineinziehen
Akut wurde das niederrheinische Erbfolgeproblem im März 1609. Zwei der vielen Prätendenten, die evangelischen Herrscher über das Kurfürstentum Brandenburg und über die Pfalzgrafschaft Neuburg, [<<48] suchten rasch vollendete Tatsachen zu schaffen, entsandten ihre Erbanwärter an der Spitze von Truppen ins strittige Gebiet, das sie militärisch okkupierten. In den damaligen Akten firmieren sie als die „Possedierenden“: als diejenigen, die – man ergänze: unabhängig von der strittigen Rechtslage – nun einmal faktisch im Besitz der Erbmasse waren (lat. possessio = Besitz, Besitznahme). Im Dortmunder Vertrag einigten sie sich auf die gemeinsame Regierung des Landes. Der Kaiser hingegen proklamierte, die strittigen Gebiete fielen vorläufig unter seine provisorische Verwaltung, so lange, bis der Reichshofrat entschieden habe, wer erbberechtigt sei; zum vorläufigen Administrator ernannte er den habsburgischen Erzherzog Leopold. Der rüstete zu, zog schließlich mit Truppenmacht an den Niederrhein. Dort engagierte sich mittlerweile auch die Union immer offener – so hatte Christian von Anhalt, die Graue Eminenz des Heidelberger Kurhofes, den Oberbefehl über die Truppen der „Possedierenden“ übernommen, und 1610 sandte die Union zweimal Truppen ins Elsass, um Leopolds Werbungen dort zu stören: eindeutig offensive Operationen auf bundesfremdem Gebiet, ein gefährlicher Präzedenzfall, gewagt, weil man sich französischer Rückendeckung sicher wähnte.
Für die Geschichte der Union sollte der zweite Einfall ins Elsass (vom Mai 1610) folgenreich werden. Wir müssen, anstatt aller Einzelheiten, nur drei Umstände kennen, um die Brisanz des Unternehmens verstehen zu können: Erstens war offenkundig, dass die katholischen Musterungen nicht Südwestdeutschland galten, dass sich Erzherzog Leopold endlich Respekt als kaiserlicher Administrator von Jülich verschaffen wollte. Man kann also nicht sagen, dass die Union unmittelbar bedroht gewesen wäre. Zweitens waren nur vier Unionsfürsten überhaupt eingeweiht: der kurpfälzische Direktor, sodann Moritz von Hessen-Kassel, der Ansbacher Markgraf Joachim Ernst und Georg Friedrich von Baden. Diese vier ‚Aktivisten‘ rissen einfach das Heft des Handelns an sich, schickten Unionstruppen über den Rhein. Weil sie wussten, dass die Militäraktion auf bundesfremdem Gebiet nicht konsensfähig war, wurden die Verbündeten eben gar nicht erst gefragt, auch nicht jene, die über ihre mitziehenden Truppen unfreiwillig in den Coup verwickelt waren. Sie alle wurden hinterher informiert. Sodann, drittens, ließen sich die Unionstruppen [<<49] zahlreiche Übergriffe zuschulden kommen, sie plünderten Mutzig, verwüsteten Molsheim, wüteten in der Landvogtei Hagenau, es gab Dutzende, vielleicht über hundert Tote.
Die meisten Unionsstände (einhellig die vorsichtigen, konfliktscheuen reichsstädtischen Magistrate) waren empört über den eklatanten Landfriedensbruch, der da auch in ihrem Namen verübt worden war. An den Unionstagen der Folgejahre wird der Einfall ins Elsass immer wieder als Begründung dafür herhalten, dass die Reichsstädte mehr Kontrolle über die Unionspolitik verlangen und/oder neue Steuern verweigern werden. Der Coup hat dem Bündnis in seinem dritten Jahr Wunden geschlagen, die nie mehr ganz verheilen sollten. Das latente Dauerproblem der Union war schlagartig unübersehbar geworden: dass da Regierungen mit ganz unterschiedlichen, verschieden konfrontationsbereiten politischen Vorstellungen miteinander auskommen mussten.
Wird die Union gar in einen großen europäischen Krieg hineingerissen?
Die längerfristigen Folgen der elsässischen Aggressionen waren also erheblich. Dabei war denjenigen, die sich nun und noch jahrelang darüber empörten, nicht einmal klar, dass es seit dem Winter 1609/10 um viel mehr als ‚nur‘ um Jülich und Kleve gegangen war. Während die meisten Auhausener damals ängstlich um Frieden und Stabilität in Mitteleuropa bangten, verhandelte Christian von Anhalt (bei sehr selektiver Information seiner Auhausener Verbündeten) in Paris mit Heinrich IV. über gemeinsame antihabsburgische Militäraktionen am Niederrhein. In beider Augen eröffnete die Jülicher Erbfolgekrise Chancen, die Stärkung des Protestantismus im Reich mit einer Zurückdrängung des spanischen Einflusses auf den Nordwesten des Kontinents, ja, überhaupt einer einschneidenden Schwächung der Position Habsburgs in Europa zu verbinden. Sie wollten den niederrheinischen Erbkonflikt mit der antispanischen Europapolitik Frankreichs verquicken. Ersterer sollte Paris den Vorwand zum Losschlagen liefern und deutsche Unterstützung eintragen.
Im Februar 1610 fixierten die Auhausener und Emissäre aus Paris im Vertrag von Schwäbisch Hall die Truppenkontingente für gemeinsame Militäroperationen am Niederrhein, wo Jülich inzwischen von Söldnern der österreichischen Habsburger unter Erzherzog Leopold besetzt worden war – sie gelte es mit vereinten Kräften von dort zu vertreiben. Der Vertragstext deutet, genau gelesen, die Möglichkeit [<<50] bedenklicher Weiterungen an: Falls der König wegen seines Engagements in und um Jülich von den Madridern oder den Brüsselern angegriffen würde, stünde ihm die Union mit viertausend Mann zu Fuß und tausend Reitern zur Seite, heißt es da; umgekehrt sicherte Heinrich den Unionsständen, falls die „sur le sujet de Julliers, ou autre concernant l’union“ (wegen Jülichs oder aus einer anderen das Bündnis betreffenden Ursache) attackiert würden, achttausend Fußsoldaten und zweitausend Berittene zu. Eklatant war, dass sich die Auhausener verpflichteten, keinen Vertrag, „qui importe à la cause commune“ (der für die gemeinsame Sache relevant ist), ohne vorherige Zustimmung des Bourbonen abzuschließen – einmal ins Kampfgeschehen am Niederrhein verwickelt, würde es für die Union keinen billigen diplomatischen Notausgang mehr geben. Dass der Kampf um Jülich für Heinrich von vornherein lediglich die Ouvertüre zu viel weiter reichenden Schlägen gegen das Haus Habsburg und zumal seinen spanischen Zweig sein sollte, wussten die meisten Auhausener freilich nicht, und sie kannten nicht das Ausmaß seiner Zurüstungen.
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