In der multi-ethnischen Gesellschaft erfahren die an sich schon pluralen ErinnerungskulturenErinnerungskultur also weitere Diversität. „Das Vielfältige ist die Zukunft der Vergangenheit“ (Georgi/Ohliger 2009, 20) – dieser programmatische Satz zeigt: Das Kaleidoskop der historischen Betrachtung wird in der modernen EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft mit seiner ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt bunter. Historische Erzählungen und Geschichtsbilder können neue, bislang nicht vorhandene Formen annehmen. Migrationsgeschichte, Herkunftsgeschichte, Familiengeschichte und die Geschichte der Aufnahmegesellschaft müssten, so die Forderung der Wissenschaftler, zukünftig weit stärker auf ihre Gemeinsamkeiten, Zusammenhängen und Wechselwirkungen hin betrachtet werden.
Für die ErinnerungskulturErinnerungskultur im Einwanderungsland Deutschland stellen sich vor diesem Hintergrund und unter dem Gesichtspunkt nationaler Identität, also der Bindekraft miteinander geteilter Erinnerungen, gravierende Herausforderungen. Es wird verstärkt auszuhandeln sein, welchen Stellenwert die verschiedenen Erinnerungskulturen innerhalb der Gesellschaft haben sollen. Hier sind besondere Vermittlungsanstrengungen nötig, denn mit einer dauerhaften ‚Segregation der Erinnerung‘ gehen Ausgrenzungsprozesse einher, fehlen zentrale Aspekte des gesellschaftlichen Alltags in der Erinnerungskultur.
Konfliktpotential steckt insbesondere in der Frage, wie sich Eingewanderte zu den kollektiv erinnerten Geschichten der Mehrheitsgesellschaft positionieren. Zu berücksichtigen ist dabei, dass nicht alle historischen Erzählungen der Mehrheitsgesellschaft für Zuwanderer anschlussfähig sind, gerade bei schuldbeladenen Narrativen, die zum identitätsstiftenden Grundbestand der deutschen ErinnerungskulturErinnerungskultur gehören, ist das schwierig. Gefragt wird etwa, wie historisch unbelastete Migranten die Gewaltgeschichte des NationalsozialismusNationalsozialismus als „negatives Eigentum“ (Jean Améry) annehmen sollen (siehe Gryglewski 2013; Messerschmidt 2016). BundespräsidentBundespräsident Joachim GauckGauck, Joachim prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „Verantwortungsgemeinschaft“, zu der sich die „Erfahrungsgemeinschaft“ wandeln müsse, damit in diese auch die Zuwanderer eintreten könnten. Die Größe dieser Aufgabe wird deutlich angesichts von Konflikt-, Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen in den Zuwanderer-Communities, die mit historisch gewachsenen Normen in der Mehrheitsgesellschaft kollidieren. Beispielhaft veranschaulicht das der Israel-Palästina-Konflikt oder der Völkermord an den Armeniern. Um solche widersprüchlichen Interpretationen aufzufangen, braucht es verstärkte Anstrengungen bei der Vermittlung historischen Wissens und der darauf gewachsenen Werte. Es wird dazu neuer Kontextualisierungen der deutschen Geschichte bedürfen. MuseenMuseen und Gedenkstätten werden in ihren pädagogischen Angeboten stärker die jeweiligen kulturellen Vorkenntnisse und Erfahrungen berücksichtigen und auf Interessen der Migranten eingehen müssen, sie werden die Menschen mit ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergründen häufiger als bisher bei ihren eigenen biographischen Erinnerungen ‚abholen‘ und neue Vermittlungs- und Aneignungswege ausprobieren müssen.
Wie reagiert die Politik? Sie hat die Herausforderung zwischenzeitlich erkannt (siehe Wagner 2009, 227–279). „Integration bedeutet die Einbindung in das gesellschaftliche, wirtschaftliche, geistig-kulturelle und rechtliche Gefüge des Aufnahmelandes ohne Aufgabe der eigenen kulturellen Identität“, heißt es im Nationalem Integrationsplan (→ Glossar), der den „angemessene[n] Umgang mit kultureller Vielfalt [als] eine notwendige Kompetenz für alle Teile der Gesellschaft“ beschreibt (BundesregierungBundesregierung 2007, 127). Auch die Enquete-Kommission des Deutschen BundestagesBundestag „Kultur in Deutschland“ widmete sich in ihrem Abschlussbericht dem neuen Leitgedanken „Interkultur“ (Bundestag 2008, 308ff.). Explizit angesprochen wird die historische Dimension der Zuwanderung indes nicht. Immerhin verband 2011 die damalige Integrationsbeauftragte Maria BöhmerBöhmer, Maria (CDU) die Einsetzung eines neuen Bundesbeirats für Integration ausdrücklich mit dem Wunsch, dieser solle auch die gesellschaftliche Identitätsdebatte voranbringen. Mit Blick auf „Heimatgefühle“ in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft postulierte der Beirat 2013, Heimat sei nicht mehr nur eine „Schicksalsgemeinschaft, die sich aus einer gemeinsamen Vergangenheit definiere“, sondern eine „Gemeinschaft der Zukunft.“ Gleichzeitig wurde aber auch betont, dass Heimat ohne eine gemeinsame Geschichts- und ErinnerungskulturErinnerungskultur inhaltslos sei. Der „Bau einer modernen Identität als Einwanderungsgesellschaft“ müsse mit der Entwicklung eines neuen Zugangs zur deutschen Geschichte anfangen, wozu etwa ein nationaler Erzähl-Marathon einberufen werden solle (Beirat 2012). Die Geschichte der Einwanderung, die Aufbauleistung von Einheimischen und Zugewanderten als gemeinsamer Erfolg müssten als Teil der Erinnerungskultur künftig stärker vermittelt und in Schulbüchern und Ausstellungen thematisiert werden. Geschichts- und Zeitbilder der Einwanderung und Integration sollten zudem in der Benennung von Straßen und Plätzen deutlich werden. Diese Form der Symbolpolitik steckt allerdings noch gänzlich in den Anfängen, ebenso verhallen vereinzelte Aufrufe, einen Gedenktag zu etablieren, bislang ungehört. Immerhin: Bei einem Festakt zum 60. Jahrestag der ersten Gastarbeiteranwerbung dankte BundeskanzlerinBundeskanzler/in Angela MerkelMerkel, Angela allen, die am WirtschaftswunderWirtschaftswunder mitgearbeitet haben. Bereits zuvor setzte das Parlament ein wichtiges Zeichen: Am 23. Mai 2014 hielt im Deutschen Bundestag der Schriftsteller Navid KermaniKermani, Navid, Deutscher iranischer Herkunft und Muslim, die zentrale Festrede zum 65. Jahrestag des GrundgesetzesGrundgesetz (Kermani 2014). Angesichts der prognostizierten tiefgreifenden demographischen Veränderungen in der deutschen Gesellschaft und der anhaltenden Zuwanderung wird die Debatte über das Erinnern in der Zuwanderungsgesellschaft absehbar weiter an Bedeutung gewinnen.
Weiterführende Literatur
GeorgiGeorgi, Viola B. 2003: Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland (Hamburg 2003).
GeorgiGeorgi, Viola B./Ohliger 2009: Viola B. Georgi/Rainer Ohliger (Hg.), Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft (Hamburg 2009).
Motte/Ohliger 2004: Jan Motte/Rainer Ohliger (Hg.), Geschichte und GedächtnisGedächtnis in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik (Essen 2004).
4 Deutsche Geschichtsbezüge und die großen geschichtspolitischen Debatten Geschichte ist mehr als bloßes Wissen von Fakten und Daten – historisches Wissen meint, Zusammenhänge erkennen und erklären, historische Prozesse einordnen und deuten, die Gegenwart mit ihren Strukturen und Herausforderungen als Ergebnis dieser historischen Prozesse verstehen zu können. Das weiß, wer Geschichte studiert hat – und dieser Wissensvorsprung macht einen wesentlichen Teil der Fachkompetenz des Historikers aus, mit der er auf einem umkämpften Berufsmarkt ‚wuchern‘ kann. Wer beruflich in den politischen Raum strebt, sollte deshalb mit den zentralen politischimmer wieder relevanten Geschichtsbezügen der Deutschen vertraut sein und die großen Debatten, die sich daran entzündeten, kennen. Sie werden im Folgenden kursorisch skizziert. Конец ознакомительного фрагмента. Текст предоставлен ООО «ЛитРес». Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию Hilmar Sack Geschichte im politischen Raum Theorie – Praxis – Berufsfelder Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG A. Francke Verlag Tübingen
на ЛитРес.
Читать дальше