Sznaider 2016: Natan Sznaider, GedächtnisGedächtnis im Zeitalter der GlobalisierungGlobalisierung. Prinzipien für eine neue Politik im 21. Jahrhundert. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 3–4, 2016, 10–15.
3.3 Erinnern in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft
Auch die globalen Wanderungsströme der zurückliegenden Jahrzehnte verändern die ErinnerungskulturErinnerungskultur. Welche Auswirkungen hat die Zuwanderung ethnischer und religiöser Minderheiten auf bestehende Erinnerungsgemeinschaften im Einwanderungsland? Vor welchen Herausforderungen stehen Mehrheitsgesellschaft und Migranten bzw. Einwanderer-Communities, jeweils für sich und im gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander? Das sind hochpolitische Fragen, die sich bereits heute stellen und im ‚Zeitalter der Migration‘ absehbar weiter an Bedeutung gewinnen werden.
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Es hat lange gedauert, bis sich Gesellschaft und Politik zu diesem empirisch unbestreitbaren Befund bekannten. Insgesamt leben bereits heute rund 16,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik, das sind über 20 Prozent der Bevölkerung. Frühere ‚Gastarbeiter‘-Familien (→ Glossar) befinden sich inzwischen in zweiter und dritter Generation in Deutschland, ihre Kinder und Enkel sind hier geboren, oft im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit – und nicht selten geprägt von einem doppelten, z.T. sogar multiplen Heimat- bzw. Zugehörigkeitsgefühl.
Zuwanderung (und im Übrigen auch Auswanderung) hat es immer schon gegeben. So berichtet jedes örtliche Telefonbuch des Ruhrgebiets mit der Massierung polnischer Nachnamen vom ‚Pott‘ als Einwanderungsregion im Zeitalter der Industrialisierung. Und auch die Anfangsjahre der Bundesrepublik waren von einer immensen Integrationsaufgabe geprägt: Die Millionen Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten mussten nicht nur in Lohn und Brot gebracht werden, auch ihre Erinnerungen an FluchtFlucht und Vertreibung und Vertreibung, an die alte Heimat und die abgebrochenen deutschen Kulturtraditionen im Osten verlangten nach politischer und gesellschaftlicher Achtung (→ Kapitel 4.1).
Während der Staat sich bemüht, das ostdeutsche Kulturgut in den erinnerungskulturellen Haushalt der Bundesrepublik aufzunehmen, gibt es derzeit wenige Versuche, auch die Erfahrungen der Zuwanderer aus anderen Staaten und Kulturen in die kollektive Erinnerung einzubeziehen. Als „augenfällig blass und unterbelichtet“ beurteilten die Historiker Jan MotteMotte, Jan und Rainer OhligerOhliger, Rainer die historische Dimension im Migrationsdiskurs. Sie kritisieren, Einheimische und Zuwanderer bzw. deren Kinder lebten noch immer in „getrennten Erinnerungslandschaften“ (Motte/Ohliger 2004, 47). Unter Migranten wie unter Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft herrschen wechselseitig gravierende Defizite im Wissen um die Geschichtsbilder ihres Gegenübers. Allenfalls das Foto des Portugiesen Armando Rodrigues, der 1964 als millionster Gastarbeiter ein Moped geschenkt bekam, zählt als Ikone der Wirtschaftswunderjahre zum nationalen Bilderschatz. Eine Historisierung der Migration steckt aber noch immer in den Anfängen, auch wenn deutsche MuseenMuseen begonnen haben, Migrationsprozesse darzustellen, und die Musealisierung der Migration international durchaus Konjunktur hat (siehe Baur 2009; ders. 2010; ders. 2013).
Abb. 3:Migration im Museum: Vitrine des Realschulprojekts in der Geschichtswerkstatt zur Sonderausstellung des DHMMuseenDHM „Zuwanderungsland Deutschland“
Die öffentliche Zuwanderungs-Debatte pendelte in Deutschland lange zwischen den Auswüchsen von Fremdenfeindlichkeit in der Mehrheitsgesellschaft einerseits und andererseits einem Nützlichkeitsdenken in Wirtschaft und Politik, in dem Zuwanderung angesichts des demographischen Wandels zur Sicherung des Sozialstaats ausdrücklich gefordert wird. Seit einigen Jahren gewinnt unter dem Schlagwort „Zweite deutsche Einheit“ das Bemühen um eine bessere gesellschaftliche Integration der Zugewanderten an Fahrt. Dabei geht es vorrangig um Spracherwerb, um Ausbildungs- und Beschäftigungsperspektiven, um die Überwindung der Bildungssegregation, also der ungleichen Verteilung von Bildungschancen. Integrationsbemühungen berühren aber auch ganz wesentlich Fragen von Zugehörigkeit und Identität, und dabei bündeln sich vielfältige Dimensionen von Geschichte und Politik. Wie bei der Teilhabe am Arbeitsmarkt geht es auch hier um Partizipation, um emotionale Zugehörigkeit. So betonen Jan MotteMotte, Jan und Rainer OhligerOhliger, Rainer (2004, 48) die Notwendigkeit historisch-symbolischer Anerkennung als wichtigen Baustein „einer vollständigen, auch staatsbürgerlichen Akzeptanz und Voraussetzung für volle Partizipation im Gemeinwesen.“
Unter dem Begriff Integration sammeln sich ganz unterschiedliche Vorstellungen gesellschaftlichen Zusammenlebens, ihre Schlagworte lauten u.a. „Kulturelle Vielfalt“, „Multikulturelle Gesellschaft“, aber auch „Leitkultur“ und „Assimilation“. Die öffentliche Debatte fokussiert – so wie während der leidenschaftlich geführten Debatte zu Beginn des Jahrtausends, als sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft in überaus kontroversen Diskussionen ihrer zentralen Werte und Normen vergewisserte (siehe Lammert 2006) – vorrangig auf die Integrationsbereitschaft der Migranten in die verfassungsrechtlichen und kulturellen Grundlagen der Mehrheitsgesellschaft. Den gesellschaftlichen Veränderungen, die Zuwanderung auch für die aufnehmende Gesellschaft brachte, und den Erfahrungen der Migranten wurden und werden hingegen nur wenig Aufmerksamkeit und Interesse entgegengebracht.
Im schier uferlosen Strom wissenschaftlicher Literatur zur ErinnerungskulturErinnerungskultur bilden die Studien, die sich dezidiert dem Erinnern in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft widmen, noch immer ein Rinnsal. Vor allem die Erziehungswissenschaften leisten wichtige Pionierarbeit. Viola B. GeorgiGeorgi, Viola B. erkennt sechs „Dimensionen historischer Sinnbildung“ in der Einwanderungsgesellschaft: „1. Die Geschichte des Aufnahmelandes bzw. des Einwanderungslandes, die als Nationalgeschichte verfasst ist, also die öffentlichen Narrative der Mehrheit. 2. Die familiär-tradierten Geschichten und Erzählungen der Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft, also die privaten Narrative der Mehrheit. 3. Die Geschichte der Herkunftsländer und Regionen der Migranten und Migrantinnen, die als Nationalgeschichte verfasst ist, also die öffentlichen Narrative der Minderheit. 4. Die familiär-tradierten Geschichten und Erzählungen der Repräsentanten der Einwanderer-Communities, also die privaten Narrative der Mehrheit. 5. Die spezifische Migrationsgeschichten der und über die Einwanderer-Communities, also die Narrative der Migration. 6. Die im doppelten Sinn geteilte – trennende und gemeinsame – Geschichte der Beziehungen von Einheimischen und Eingewanderten, also die geteilten Narrative.“ (Georgi/Ohliger 2009, 11)
Menschen mit Migrationsgeschichte stehen in einem Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Anerkennung der eigenen Vergangenheit einerseits und nach Zugehörigkeit zur Geschichte der Mehrheitsgesellschaft andererseits. GeorgiGeorgi, Viola B. unterscheidet bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund deshalb fünf Varianten der Aneignung von Geschichte (ebd. 12f.): 1. Orientierung an den historischen Traditionen des Herkunftslandes; 2. Übernahme kollektiver Geschichtsdeutungen aus der Mehrheitsgesellschaft; 3. Verortung ausschließlich in der ErinnerungskulturErinnerungskultur der jeweiligen Einwanderer-Community, die mit konstituiert und tradiert wird; 4. Mischen von Elementen unterschiedlicher Kollektivgedächtnisse; 5. Geschichts- und Erinnerungslosigkeit, weil einerseits Verlust der historischen Traditionen aus dem Herkunftsland und gleichzeitig Ausschluss vom GeschichtsbewusstseinGeschichtsbewusstsein des Einwanderungslandes.
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