Einführung der Sozialgesetzbücher
Für den aktuellen Umbau-Prozess der Geistigbehindertenpädagogik und Rehabilitation entscheidender als das ‚Diskriminierungsverbot‘ war die Einführung des Sozialgesetzbuches IX: Rehabilitation und Teilhabe (2001) und XII: Sozialhilfe/Eingliederungshilfe (2003). Diesen Sozialgesetzen liegt das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2001 eingeführte systemische Verständnis von Behinderung zugrunde, wie es in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) festgehalten ist. Sie wird in Kapitel 3.2 genauer dargestellt.
Nachdem das Bundessozialhilfegesetz von 1961 vierzig Jahre in der BRD Gültigkeit hatte, begann mit dem am 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe – der Umbau der gesetzlichen Vorgaben, den der ‚Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen‘ so erläutert: „Es fasste das bis dahin geltende Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen, das vorher auf mehrere Gesetze verteilt war, zusammen und entwickelte es weiter. Damit wurde auch der Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik eingeleitet. Bis dahin war sie geprägt von dem Fürsorgedanken, mit der Zielsetzung: dem behinderten Menschen muss geholfen werden“ ( www.behindertenbeauftragte.de vom 28.12.2008).
Mit der Einführung des SGB IX stelle die Behindertenpolitik folgende Aspekte in den Mittelpunkt:
„Anerkennung behinderter Menschen als Experten in eigener Sache
Zusammenarbeit mit den Verbänden behinderter Menschen
Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter Menschen ermöglichen
Behinderte Menschen stehen im Mittelpunkt“ ( www.behindertenbeauftragte.devom 28.12.2008).
Kernelemente und ziele des SGB IX
„Leistung aus einer Hand
Schnelle Zuständigkeitserklärung
Stärkung des Wunsch- und Wahlrechtes behinderter Menschen bei Inan spruchnahme der Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe
Kooperation, Koordination und Konvergenz des Leistungsgeschehens, d.h. Abstimmung und Zusammenarbeit der Träger bei der Leistungserbringung
Stärkung des Grundsatzes ‚ambulant vor stationär‘
Besondere Berücksichtigung der Bedürfnisse behinderter Frauen und Kinder
Das SGB IX beinhaltet u.a.
Definition von ‚Behinderung‘
Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe, unterhaltssichernde Leistungen
allgemeine Grundsätze: Welche Hilfen gibt es? Wie werden sie erbracht? Wer ist zuständig?
Zusätzlich gibt es Verordnungen, Richtlinien, gemeinsame Empfehlungen und sonstige Durchführungsvorschriften der jeweiligen Leistungsträger. Leistungen zur Teilhabe werden erbracht als
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, als
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, als
Unterhaltssichernde Leistungen sowie als
Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ ( www.behindertenbeauftragte.devom 28.12.2008).
Abgeschlossen wurde der Umbau durch die Einfügung des Bundessozialhilfegesetzes in das Zwölfte Sozialgesetzbücher (SGB XII) –Sozialhilfe/Eingliederungshilfe –, das in seinen wesentlichen Teilen am 1. Januar 2005 in Kraft trat.
Heute sind es vier Motive, die die aktuellen Entwicklungen innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik, der Rehabilitation sowie der Behinderten- und Sozialpolitik bestimmen:
Teilhabe verwirklichen
Gleichstellung durchsetzen
Selbstbestimmung ermöglichen
Lebensqualität sichern.
Diese Neuerungen finden ihren Niederschlag in der Gestaltung von gemeindeintegrierten Wohnräumen und industrienahen Arbeitsangeboten, aber auch bei der Diagnose individueller Hilfe- und Unterstützungsbedarfe. Menschen mit Behinderung sollen heute möglichst selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Für viele Menschen mit geistiger Behinderung ist dies inzwischen Wirklichkeit geworden.
Doch diese für die Menschen mit leichter geistiger Behinderung positive Entwicklung hat auch ihre Grenze, denn sie muss in einem gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozess gesehen werden, der mit Forderungen nach Selbstbestimmungsund Integrationsfähigkeit zum Ausschluss von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung führt (Fornefeld 2007a). Eine Kritik ist notwendig, weil sich Anzeichen mehren, „die nicht nur eine Fortführung des bisher Erreichten entgegenstehen, sondern dieses umgekehrt wieder in Frage stellen können“ (Dederich 2008, 31). Auf diese Entwicklungen wird in Kapitel 3.6 näher eingegangen und dabei gezeigt, dass sich heute eine ‚Restgruppe‘ innerhalb der Population der Menschen mit geistiger Behinderung herausbildet, die als Menschen mit Komplexer Behinderung bezeichnet werden.
UN-Konvention Rechte der Menschen mit Behinderung
Dass die Rechte von Menschen mit Behinderung schützenswert sind, wird auf internationaler Ebene u.a. von den Vereinten Nationen (UN) in New York diskutiert. Um die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung weltweit zu verbessern, haben die Vereinten Nationen die „Konvention zum Schutz der Rechte behinderter Menschen“ in jahrelangen Bemühungen, an denen deutsche Vertreter staatlicher und privater Organisationen beteiligt waren, entwickelt und Ende 2006 veröffentlicht. Ende März 2007 wurde das Abkommen von der Bundesrepublik unterzeichnet und am 19. Dezember 2008 ratifiziert. Damit war der Weg frei für das Inkrafttreten der Konvention am 1. Januar 2009. Deutschland ist nunmehr verpflichtet, die Vorgaben der Konvention in nationales Recht umzusetzen. An dieser Entwicklung haben Behindertenverbände maßgeblich Anteil. Die Grundsätze der Konvention werden in Artikel 3 formuliert:
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