Die Heilpädagogik und, genauer, die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger durch die reformerischen Veränderungen in der Allgemeinen Pädagogik beeinflusst als vielmehr durch die Zunahme nationalsozialistischen und sozialdarwinistischen Denkens, das in der Zeit von 1933 bis 1945, im sog. Dritten Reich, zur Ausgrenzung und Vernichtung von Menschen mit geistiger Behinderung führte.
Theorien Darwins und Mendels
Die nationalsozialistische Politik der Ausgrenzung Behinderter, Kranker und „Randständiger“ basierte auf den Theorien, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Arbeiten des Biologen Charles Darwin und des Genetikers Gregor Mendel ihren Anfang nahmen (Rudnick 1985, 7). Darwin hatte 1859 ein Buch mit dem Titel „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtauswahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um das Dasein“ veröffentlicht. In diesem Buch zeigte Darwin, dass durch natürliche Auslese und durch Selektion bei verschiedenen Pflanzenarten gute Entwicklungen erreicht werden konnten. Bestimmte Arten erwiesen sich für die Züchtung als geeigneter als andere. Darwin selbst hat seine Thesen nie auf den Menschen übertragen, also eine soziale Auslese angeregt. Dies geschah Mitte des 19. Jahrhunderts durch die sog. Sozialdarwinisten, wiez.B. A. Tille, E. Haeckel, A. Plotz und W. Schallmayer, vor allem durch die Übernahme und Übertragung des Selektionsgedankens auf den Menschen. Selektion bewirkt nach Ansicht Schallmayers, dass sich nur der Teil einer Art fortpflanzen kann, der besonders gut an die Lebensart angepasst ist. Dazu sei eine Auslese der Besten einer Art und eine Vernichtung der Minderwertigen notwendig. Selektion war nach Schallmayer die Bedingung für Fortschritt, und das eben nicht nur bei Pflanzen und Tieren, sondern auch beim Menschen.
Eugenik
Eine Erweiterung und Bekräftigung dieses sozialdarwinistischen Denkens erfolgte durch die Eugenik, die Erbgesundheitslehre des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Gregor Mendel schuf durch die Entdeckung verschiedener Vererbungsgesetze die Grundlage für eine wissenschaftliche Eugenik; er selbst gilt aber nicht als der eigentliche Begründer der Eugenik der Jahrhundertwende. Sie geht vielmehr auf den Engländer Francis Galton (1822–1911) zurück, einen Cousin Darwins, der 1895 ein Buch mit dem Titel „Erbliche Anlagen und Eigenschaften“ veröffentlichte. Hierin vertrat Galton die Meinung, dass es genau wie in der Pferdezucht möglich sei, durch wohlausgewählte Ehen in einigen aufeinanderfolgenden Generationen eine hochbegabte Menschenrasse hervorzubringen (Rudnick 1985, 13). Die Folgen, die sich aus diesem Denken für Menschen mit Behinderung zur Zeit des Nationalsozialismus ergaben, beschreibt Rudnick folgendermaßen:
„Der Sozialdarwinismus, die von Charles Darwin nicht gewollte Übertragung seiner Erkenntnisse auf das Zusammenleben der Menschen und die Eugenik waren die Haupttheorien, mit denen z.B. Adolf Hitler in seinem Buch ,Mein Kampf‘ (…) die ,Ausmerzung‘ Kranker, Behinderter und Randständiger begründete. Die organisatorische Umsetzung dieser Theorien wurde vor 1933, nicht nur von den Nationalsozialisten, im Rahmen der Sterilisations- und ,Euthanasie‘-Diskussion theoretisch vorgeplant und teilweise praktisch erprobt. Die aussondernde Erziehung und Unterbringung von Behinderten, Kranken und Randständigen, die auch schon vor 1933 Realität waren, müssen als positive Voraussetzungen für die spätere Sterilisations- und ,Euthanasie‘-Kampagne im Dritten Reich gewertet werden“ (13).
Euthanasie
Im Nationalsozialismus wurde durch die Vernichtung behinderter Menschen („Euthanasie“) das eingelöst, was in den 1920er Jahren begann, nämlich die Aberkennung des Lebensrechtes schwachsinniger und als schulbildungsunfähig gel-tender Menschen. Am 14.07.1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet, das am 01.01.1934 in Kraft trat und zur Selektion von ökonomisch brauchbaren und ‚minderwertigen‘ Hilfsschülern führte. Die Diffamierungskampagne gegen die Schwächsten verschärfte sich. Nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ setzte 1934 eine Welle von Zwangssterilisationen ein, von der nicht nur behinderte Menschen betroffen waren, sondern alle Randgruppen der Bevölkerung. Die Hilfsschullehrer wurden zu Mitarbeitern an der ‚volksbiologischen Aufgabe‘, der Reinerhaltung der arischen Rasse, indem sie die Schüler meldeten, die dem völkischen Kriterium der Brauchbarkeit, der Nützlichkeit für die Volksgemeinschaft nicht entsprachen, also die Schüler, die wir heute als geistig behindert bezeichnen. Mit dem Reichschulpflichtgesetz von 1938 wurde für die Aussonderung dieser Kinder die juristische Grundlage geschaffen. In Paragraph 11 heißt es:
„Bildungsunfähige Kinder und Jugendliche sind von der Schulpflicht befreit. Als bildungsunfähig sind solche Kinder anzusehen, die körperlich, geistig oder seelisch so beschaffen sind, dass sie auch mit den vorhandenen Sonderschuleinrichtungen nicht gefördert werden können“ (nach Speck 1979, 67).
Auch wenn sich manche Hilfsschullehrer bemühten, die Bildungsfähigkeit all ihrer Schüler, auch der geistig behinderten, zu belegen, gelang es ihnen doch nicht, dem von 1939 an beginnenden systematischen „Euthanasie“-Programm wirkungsvoll zu begegnen. Die Gleichsetzung von bildungsunfähig und lebensunwert brachte für die schwachsinnigen Menschen Vernichtung und Tod. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden die Maßnahmen immer gezielter.
„Ein Erlaß vom 18.08.1939 verpflichtete Hebammen, Geburtshelfer und Leiter von Entbindungsanstalten, alle ,idiotischen und missgebildeten Neugeborenen‘ beim zuständigen Gesundheitsamt zu melden. Nach einer ,Begutachtung‘ wurden sie zur ,Vernichtung‘ freigegeben. Am Ende dieser ,Kinder-Aktion‘ (1941) wurden auch ältere Kinder und Jugendliche erfasst. Die Gesamtzahl der Getöteten wird auf 5000 geschätzt. Von 1939 bis 1941 lief die ,Aktion T4‘ gegen erwachsene Geisteskranke, unter denen sich auch Menschen mit geistiger Behinderung befunden haben mögen; die Zahl der Getöteten wird auf 80 000 bis 100 000 geschätzt. Von 1941 bis 1943 lief die ,Sonderbehandlung 14f 13‘, die zur ,Ausmerzung‘ Kranker, auch geisteskranker Häftlinge, Schwachsinniger, Verkrüppelter und anderer als ,lebensunwert‘ Gekennzeichneter in den Konzentrationslagern führte. Die Zahl der Opfer wird auf 20 000 geschätzt“ (Mühl 1991, 16).
Situation zu Kriegsende
1945 waren die Anstalten leer, das Hilfsschulwesen existierte nicht mehr. Die nationalsozialistische Ideologie mit ihren sozialdarwinistischen Theorien und menschenverachtenden bzw. -vernichtenden Praktiken führte zu einer breiten Verunsicherung im Umgang mit behinderten Menschen und zum Verlust humaner Werte. Die Vorurteile gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung setzten sich nach Kriegsende weiter fort.
Beck, C. (1995): Sozialdarwinismus, Rassenhygiene, Zwangssterilisation und Vernichtung „lebenswerten“ Lebens. 2. Aufl. Bonn
Dörner, K. (1967): Nationalsozialismus und Lebensvernichtung. In: Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, 15, 121–152
Klee, E. (1985): „Euthanasie“ im NS-Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Frankfurt/M.
Schmuhl, H.-W. (1992): Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1945, 2. Aufl. Göttingen
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