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1863 Gründung der Alsterdorfer Anstalten bei Hamburg durch Pastor Dr. Heinrich Sengelmann (1821–1899),
1872 Gründung der Anstalt für Epileptiker in Bethel bei Bielefeld durch Pastor Dr. Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910),
1884 Gründung der Ursberger Anstalten, eine der größten Einrichtungen mit lange Zeit über tausend behinderten Menschen und vielen hundert Betreuern.
Die meisten Anstaltsgründungen gehen auf private Initiativen zurück und waren kirchlich-karitative Institutionen, die von einem christlichen Ethos getragen waren. „Man würde ihnen aber nicht gerecht, wollte man sie nur unter diesem Aspekt betrachten. Sie waren vielmehr (…) mitgetragen von den pädagogischen und medizinischen Impulsen und Erkenntnissen, die sich in dieser Zeit allmählich verbreiteten“ (Speck 1999, 15). Die heilpädagogische Arbeit dieser Zeit war nicht nur eine praktische, eine Entwicklung und Erprobung von konkreten Behandlungs- und Erziehungsmethoden.
Es gab auch die ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dieser neuen Form der Pädagogik, z.B. die von Georgens und Deinhardt, über die man sich auf Tagungen und Treffen austauschte. Jan Daniel Georgens (1823–1886) und Heinrich Marianus Deinhardt (1821–1880) waren Pädagogen und gründeten in der Nähe von Wien die Heil- und Erziehungsanstalt Levana.
In ihren Vorträgen versuchten sie, ihre praktischen Erziehungserfahrungen systematisch zu begründen. Ihre Vorträge fassten sie in zwei Bänden mit dem Titel „Die Heilpädagogik“ zusammen. Möckel charakterisiert und bewertet dieses Werk folgendermaßen: „Heilpädagogik war ihrem Ansatz nach Kritik der bestehenden Pädagogik. Ihr Werk ist ein ernstzunehmender Reformversuch. Später schien es, als sei ihr Werk ausschließlich ein Beitrag zur Geistigbehindertenpädagogik“(1997, 244). Die Schriften von Georgens und Deinhardt haben die erzieherische Arbeit in den entstehenden Anstalten des 19. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst.
Neue Anstalten entstanden oft auf Anregung und auf der Grundlage der Erfahrungen der bereits bestehenden. An der Erforschung des komplexen Phänomens des „Schwach-sinns“ waren Mediziner, Pädagogen und Theologen beteiligt, weil man schnell feststellte, dass eine mehrdimensionale Vorgehensweise notwendig war. Von 1860 an setzten sich die Pädagogen stärker durch und die Ärzte zogen sich aus der Anstaltsarbeit weitgehend zurück, weil man erkannt hatte, dass bei Menschen mit geistiger Behinderung durch eine entsprechende Erziehung und Betreuung mehr zu erreichen war als durch medizinische Therapie.
Abb. 6: Unterricht mit dem Bilderlesebuch: Ursberger Anstalten um 1920
Staatliches Desinteresse
Trotz Verbesserung der Lebenssituation und der Erfolge in der Erziehung blieb das staatliche Interesse an den Belangen schwachsinniger Menschen gering. Von den bis 1870 vornehmlich in Preußen und anderen norddeutschen Ländern „erfolgten 27 Anstaltsgründungen sind lediglich 4 durch Regierungen oder Behörden erfolgt und von den ab 1870 bis um 1900 gegründeten 52 Anstalten nur 10“ (Mühl 1991, 14). Trotz der zahlreichen Anstaltsgründungen konnten nicht alle „schwachsinnigen“ Kinder hier Aufnahme finden. Der Großteil verblieb in den Elternhäusern. Für diese Kinder musste eine andere Form der Erziehung gefunden werden, und dies unter staatlicher Beteiligung, das heißt unter schulrechtlicher Absicherung. „Die Schulpflichtgesetze schlossen zwar grundsätzlich alle Kinder mit ein, aber von einer rechtlichen Gleichstellung behinderter und nichtbehinderter Kinder war das Schulwesen noch weit entfernt“ (Möckel 1988, 207).
Erste staatliche Beschulungsversuche
Ende des 19. Jahrhunderts suchte man nach Formen einer Beschulung für schwachsinnige Kinder und versuchte dies durch Angliederung von sog. Sonderklassen an Volksschulen zu realisieren. In diesen Klassen fasste man alle die Kinder zusammen, die dem normalen Unterricht der Volksschule nicht folgen konnten. Aufgrund der Unschärfe der zur damaligen Zeit verwendeten Begriffe „Idiot“, „Schwachsinniger“ oder „Blödsinniger“ ist anzunehmen, dass sowohl Kinder mit Lernbehinderung als auch mit geistiger Behinderung diese Sonderklassen besuchten. Dasselbe gilt für die ab 1880 entstandenen Hilfsschulen. In diesen zeigte sich aber schnell, dass es eine beachtlich große Gruppe von Schülern gab, die das Ziel der Schule nicht erreichen konnte. Für diese „schwer schwachsinnigen“ und „nicht hilfsschulfähigen“ Kinder, also für die geistig behinderten, entstanden ab 1910 spezielle Klassen, die sog. Vorklassen, Vorstufen, Vorbereitungsklassen oder Sammelklassen. Während der Weimarer Republik waren in den Hilfsschulen ca. 10% der Schüler Kinder mit geistiger Behinderung, die in den Sammelklassen ganztägig betreut wurden. Man empfand diese „bildungsunfähigen“ Kinder als Ballast und rückte sie mit der Bildung von Sammelklassen an den Rand der Hilfsschule.
Erschwerend kam hinzu, dass sich um die Jahrhundertwende der Zeitgeist änderte und das Nützlichkeitsdenken stärker zunahm. Vor dem Hintergrund gesellschafts- und sozialpolitischer Veränderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkte sich der Leistungsdruck auf die Hilfsschulen, was – Hand in Hand mit der Verbreitung nationalsozialistischer Wertmaßstäbe (siehe folgenden Abschnitt) – dazu führte, dass die speziellen Klassen für „schwer schwachsinnige“ Kinder in Deutschland 1933 aufgelöst wurden.
2.3Sozialdarwinismus und Nationalsozialismus – Konsequenzen für Menschen mit geistiger Behinderung
Das nationale, staatlich bestimmte bürgerliche Zeitalter ging mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende. In Europa entstanden rivalisierende Staaten, die in einem gewissen wirtschaftlichen und damit auch politischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander standen. Die Weltwirtschaft beeinflusste die einzelnen Staaten immer stärker. Die nationalen wie internationalen Veränderungen führten zu gesellschaftlichen Verunsicherungen, die letztlich nicht ohne Wirkung auf die Pädagogik blieben.
Reformpädagogik
Man suchte nach neuen Wegen der Erziehung von Kindern. Leitgedanken wie Demokratie und Gerechtigkeit sollten in und durch Erziehung realisiert werden. Die Rechte der Kinder auf Eigenentwicklung sowie sozialerzieherische Zielsetzungen rückten stärker ins Bewusstsein von Pädagogen und fanden in den verschiedenen reformpädagogischen Ansätzen ihren Niederschlag, wie zum Beispiel in der Odenwaldschule von P. Geheebs (1870–1961), in der Jena-Plan-Schule von P. Petersen (1884–1952) und in anderer Weise in den Waldorfschulen von R. Steiner (1861–1925). Mit Möckel lassen sich die Veränderungen im pädagogischen Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgendermaßen beschreiben:
„Seit der Reformation stützte sich die Erziehung auf die christlichen Hausväter und auf die unter kirchlicher, später staatlicher Aufsicht stehender Lehrer. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg entstanden viele neue Einrichtungen. … Die Reformpädagogik (Berthold Otto, Fritz Gansberg, Heinrich Scharrelmann, Célestin Freinet, Peter Petersen, Maria Montessori) kann als Versuch gesehen werden, die Erziehungskraft der bestehenden Schule zu reformieren und zu stärken“ (211).
Es ist anzunehmen, dass die Reformpädagogik keinen großen Einfluss auf die Heilpädagogik hatte, zumal die zentrale Stellung des Kindes im Entwicklungsprozess von Anfang an zu den Grundsätzen der Heilpädagogik gehörte und für diese demzufolge nichts Neues war. Außerdem machte die Heterogenität der Behinderungen ein Denken „vom Kinde aus“ notwendig (Merkens 1988, 88).
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