In der Migrationsforschung ist dabei strittig, ob die dargestellte Zunahme der Migration allein durch die Globalisierung hervorgerufen wurde. Während einige Forscher*innen auf die Möglichkeit von Langstreckenreisen und die einfachere Kommunikation mit Personen im Herkunftsland verweisen und uns im Zeitalter der Migration („Age of migration“, Castles et al. 2014) sehen, dessen gewaltiges Ausmaß an internationalen Wanderungsbewegungen ohne die Globalisierung so nicht möglich gewesen wäre (Brettel und Hollifield 2008), bestreiten andere die Neuartigkeit des Phänomens. So verweisen Hirst und Thompson (1996) zum Beispiel auf Parallelen zu Migrationsbewegungen im späten 19.Jahrhundert.
2.1.2 Theorien auf der Mesoebene
Neuere Theorieansätze schließen an die Veränderungen infolge der Globalisierung an und konstatieren die Herausbildung einer Meso-Ebene in Form von neuen transnationalen sozialen Feldern oder Räumen, die die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten (Faist 1995). Zum Informationsaustausch, zur Verringerung der Kosten und Risiken und zur Erleichterung der Integration bilden sich sog. Migrationsnetzwerke heraus, die für die Wahl des Ziellandes entscheidend sind. Die kontinuierliche Migration zwischen gleichbleibenden Herkunfts- und Zielländern entwickelt eine Art Eigendynamik (kumulative Verursachung); durch Rücktransfers von Einkommen und Informationen aus dem Zielland werden weitere Migrant*innen angezogen (Shah und Menon 1999). Dadurch kann sich eine „Migrationskultur” herausbilden. In vielen Fällen ist diese längst für junge Männer und Frauen zu einem normalen Bestandteil ihres Lebens geworden (Massey et al. 1994).
Das Konzept der Migrationskultur weist über die weiter oben vorgestellte Lohndifferentialhypothese hinaus und erklärt, warum Migration auch dann noch stattfindet, wenn die Margen der durch Mobilität erzielten Einkommensgewinne schrumpfen. Es ließe sich auch mit konstruktivistischen Ansätzen in Einklang bringen (→ Seite 56): Migration als eine kulturell gegebene Option zur Lebensgestaltung inklusive bestimmter Verhaltensregeln, Wahl der Zielländer etc. Aus historisch gewachsenen Strukturen entstehen informelle internationale Migrationssysteme, die weitgehend unabhängig von der Staatenwelt existieren können.1
Die Migrationsforschung hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten durch diese auf abstrakteren Raumbegriffen basierende Ansätze wesentliche Impulse erfahren. Hierzu zählt zum einen das zu Beginn der 1990er Jahre von amerikanischen Forscherinnen entworfene Konzept der transnationalen sozialen Felder, „transnational social fields“ (Glick Schiller et al. 1992; Basch et al. 1994) und zum anderen das von deutschen Wissenschaftlern maßgeblich geprägte Konzept der „transnationalen sozialen Räume“ (Faist 2004; Pries 2008). Hiernach greift die Vorstellung des Staates als eines sozial und geographisch abgeschlossenen Raumes, im Sinne einer Art „Container-Gesellschaft“, zu kurz. Vielmehr zeige die tatsächliche Migrationserfahrung, dass durch die Migration ganz neue Arten von Verbindungen und auch Institutionen entstehen, die die durch die Migration verbundenen Staaten auf neue Art zusammenführen und überspannen. „Wir nennen diese Prozesse Transnationalismus, um zu unterstreichen, dass viele Migranten heutzutage soziale Felder errichten, die geographische, kulturelle und politische Grenzen überschreiten“ (Basch et al. 1994, S.7, eigene Übersetzung).
Während die Begründer des Begriffs der transnationalen Felder eine „Deterritorialisierung des Nationalstaats“, also eine Entkopplung von politischer und räumlicher Einheit sehen (Glick Schiller et al. 1992) halten die Verfechter*innen des Raum-Begriffes den Staat immer noch als wichtigen Referenzrahmen; schließlich stünden Migrant*innen weiterhin unter dem Einfluss von Politiken und Praktiken von Herkunfts- und Zielstaaten und Staatengemeinschaften, die einem spezifischen Territorium zugeordnet sind (Smith und Guarnizo 1998, S.10). Diese Debatte befasst sich auch mit den mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Rechten; Soysal spricht hier von einer „postnationalen Mitgliedschaft“, bei der in Europa zunehmend Rechte, die zuvor ausschließlich Staatsbürgern vorenthalten gewesen sein, auch an Immigrant*innen gewährt wurden (Soysal 1994).
Mit dem Begriff der „transnationalen Politikräume“ (Rother 2009) soll die explizit politische Dimension dieses Phänomens erfasst werden: Politik von und für Migrant*innen kann sich demnach nicht mehr an den Grenzen des Nationalstaats orientieren. Auch wenn Herkunfts- und Zielstaaten aufgrund diplomatischer Zwänge oder mangelnden Willens Migrationspolitik weiterhin in diesem Rahmen betreiben, schaffen Migrant*innen durch ihr Engagement neue Räume, in denen sie auch Aufgaben übernehmen, die Staaten nicht wahrnehmen können oder wollen; diese reichen von der Rechtsberatung bis hin zur politischen Partizipation (→ 7 Migration und Demokratie).
2.2 Politikwissenschaftliche Theorien und Migration
Wie eingangs erwähnt, war die Politikwissenschaft eine „Spätstarterin“ in der Migrationsforschung, was sicher auch darauf zurückzuführen ist, dass das Themenfeld den sogenannten „low politics“ zugerechnet wurde. Damit werden all jene Politikfelder bezeichnet, die nicht unbedingt notwendig für das Überleben des Staates und seiner wirtschaftlichen und sozialen Ordnung sind. Im Laufe der Zeit wurde aber immer deutlicher, welche zentrale Rolle Migration für moderne Nationalstaaten spielt. Der amerikanische Migrationsforscher James F. Hollifield spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Staaten, so wie sie zunächst die Sicherheit ihrer Bürger*innen garantiert haben und später durch Handel zu wirtschaftlichem Wohlstand gekommen sind, auch lernen müssen, mit Migration umzugehen, weil sie ohne Migration ihren wirtschaftlichen Wohlstand nicht halten können, was angesichts der oben dargestellten demografischen Entwicklung in den Ländern des Globalen Nordens außer Frage zu stehen scheint. Zentrales Anliegen der seit den 1980er Jahren dann doch verstärkt einsetzenden politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Migration war daher die Frage, wie der Staat in Theorien der Migration eingebunden werden kann, also „how to bring the state back in” (Hollifield und Wong 2015). Die Antworten auf diese Frage fallen naturgemäß sehr unterschiedlich aus, wie wir es schon bei den anderen sozialwissenschaftlichen Theorien gesehen haben. Um die Vielfalt der politikwissenschaftlichen Theorien ein Stück weit zu ordnen, stellen wir nachfolgend die Rolle der Migration im Kontext politikwissenschaftlicher Großtheorien der Internationalen Beziehungen vor, die sich über viele Jahrzehnte etabliert und ausdifferenziert haben, und unterschiedliche Erklärungen für staatliches Handeln liefern, wie Staaten auf Migration reagieren.
2.2.1 Klassischer Realismus und Neorealismus
Max Weber, Thomas Hobbes, Niccolò Machiavelli, Thukydides – die Wurzeln des Realismus reichen weit zurück. Alle diese Autoren teilen mit dem klassischen Realismus ein zentrales Motiv: Macht ( power ) und der Kampf um diese als zentrales Charakteristikum der internationalen Politik. Während es innerhalb eines Staates Organe und Institutionen gibt, bei denen die hoheitliche Macht des Staates liegt, gibt es im internationalen System keine solche Hierarchie – es ist letztlich von Anarchie geprägt und Nationalstaaten sind die zentralen Akteure (Dougherty und Pfaltzgraff 2001). Nach Morgenthau, dem wohl bekanntesten Vertreter des Realismus geht es Politik letztlich immer darum, „either to keep power, to increase power or to demonstrate power“ (Morgenthau 1978, S.5). Zwar sind alle Nationalstaaten rechtlich gleichgestellt und souverän, sie unterscheiden sich jedoch deutlich hinsichtlich ihrer Ressourcen und ihrer Macht. Dies lässt sich an der Bedeutung der so genannten Supermächte nachvollziehen. Das Ziel von Nationalstaaten ist es aber immer, das eigene Überleben zu sichern, koste es, was es wolle. Daher versuchen Staaten, ihre politischen, militärischen und wirtschaftlichen Kapazitäten immer weiter zu erhöhen. Erst wenn das gesichert ist, kann sich ein Staat nachrangigeren Interessen zuwenden. Bündnisse mit anderen Staaten werden nur eingegangen, wenn es dem Ziel der eigenen Selbsterhaltung dient.
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