1 Einleitung
Praktische und wissenschaftliche Probleme fordern im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen und Behinderungen immer wieder Diagnostik im sonder- und heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Arbeitsfeld gerade in der heutigen Zeit heraus. Dieser Bereich ist von einem Anstieg multidimensionaler und komplexer Fragestellungen im Hinblick auf individuellen Förderbedarf geprägt. Die bisherigen eher „klassischen“ diagnostischen Arbeitsfelder Lernbehinderung, geistige Behinderung, Verhaltensstörung, Sprachstörungen und -behinderungen, körperliche Behinderung, Beeinträchtigungen und Behinderung der Sinne (Seh- und Hörbehinderung) haben sich angesichts verstärkter und immer komplexerer Not- und Problemsituationen von Kindern bis in den Bereich der Regelschule erweitert. Dieses Problemfeld Regelschule ist teilweise durch Schüler mit Verhaltens-, Lern- und Leistungsstörungen, psychosomatischen Auffälligkeiten (Essprobleme, Bauch- und Kopfschmerzen, Tics, Obstipation, Magenbeschwerden, Einschlafschwierigkeiten etc.) sowie durch Abhängigkeit von Medikamenten, Drogen und Alkohol gekennzeichnet. Wir haben es mit einer Heterogenität der Schülerschaft zu tun, wie sie bisher noch nicht festgestellt werden konnte. Entwicklung, Schullaufbahn und Leben von ca 25 Prozent der Kinder in der Regelschule erweisen sich nicht als positiv. Diese Kinder gelten als lern-, leistungs- oder verhaltensgestört und damit meist auch als erziehungsschwierig. Es handelt sich dabei um Schüler, die durch das Erleben permanenter Frustrationen und Ängste in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit gefährdet sind. Ein kritisches Hinterfragen der Lehrplaninhalte, pädagogischer und didaktischer Methoden, eigentlich eine Diagnostik der Schule und deren Umfeldbedingungen ist längst überfällig.
Erst recht im Förderschulbereich (bisher „Sonderschulbereich“) kann man von einer heterogenen Schülerschaft sprechen, die von schwerster geistiger Behinderung und damit Mehrfachbehinderung, von der Sinnesbehinderung bis hin zum überdurchschnittlich intelligenten, aber extrem verhaltensgestörten Kind reicht. Darunter finden sich Schüler mit Wahrnehmungsstörungen unterschiedlicher Art, mit Teilleistungsstörungen, gravierenden Lese- und Schreibproblemen, Dyskalkulie, Erziehungsschwierigkeiten, mit psychischer und physischer Frühdeprivation, mit autistischen Zügen, seelischer Behinderung und Hyperaktivität – allgemein gesehen: Schüler mit kognitiven und emotionalen Strukturierungs- Und Verarbeitungsstörungen sowie Schüler, die unter primär behindernden Bedingungen außerschulischer Art aufgewachsen sind, bei denen eine Kind-Umfeld-Diagnose dringend geboten ist. Dabei muss man erkennen und feststellen, dass es diese Störungen oder Behinderungen in linearer oder einheitlich-homogener, klar abgrenzbarer Form überhaupt nicht gibt. Wir haben es sowohl mit den Phänomenen Heterogenität, Individualität, Mehrfachstörung und -behinderung von Schülern als auch mit behindernd wirkenden Umfeldbedingungen zu tun.
Daraus erwächst – unter bildungspolitischem Aspekt betrachtet – die Aufgabe, Kindern und Jugendlichen ein von ihrem spezifischen Förderbedarf bestimmtes, also beobachtungs- / diagnosegeleitetes und differenziertes Förder- sowie Lerntherapieangebot sowohl im Regel- als auch im Förderschulwesen ggf. unter Einbezug von Lerntherapie bereitzustellen. Zieldifferentes Lernen wird orientiert an der jeweiligen Entwicklungsstufe des Schülers angestrebt.
Historisch betrachtet haben diagnostische Fragestellungen im sonder- oder heilpädagogischen Arbeitsfeld eine bewegte, meist vom Zeitgeist geprägte, insofern auch kritikbedürftige Geschichte, die hier allerdings nur in akzentuierter Form aufgezeigt werden kann.
Im Jahre 1904 setzte das französische Ministerium für Unterricht eine Kommission ein, die einen Unterrichtsplan für anormale und zurückgebliebene Kinder ausarbeiten sollte. Alfred Binet (1857–1911), der anfangs Jurist war, sich später den Naturwissenschaften der Psychologie und medizinischen Fragen zuwandte, befand sich als Berichterstatter in dieser Kommission. Seine Aufgabe war die Klärung der Frage, wie der Intelligenzgrad jener Kinder festgestellt werden könnte, die nicht in der Lage waren, dem üblichen Unterricht zu folgen. Die „Auslese“ der genannten Kinder stand als Problem im Mittelpunkt. Für Binet war dies der Anstoß, zusammen mit dem Arzt Théodore Simon (1873–1961) das bekannte Binet-Simon-Testsystem auszuarbeiten.
Diese Zeit, die noch zahlreiche Impulse durch die experimentelle Psychologie, Physiologie, Medizin, durch die Naturwissenschaften, v. a. auch durch die Mathematik erfuhr, wird als ein wesentlicher Ausgangspunkt der sonderpädagogisch-psychologischen Diagnostik betrachtet.
Die 1884 durch das französische Unterrichtsministerium eingesetzte Kommission aus Medizinern, Naturwissenschaftlern, Pädagogen und Psychologen arbeitete ein dreiteiliges Verfahren zur Erfassung von Kindern mit geistiger Retardation aus. Binet und Simon stellten im Jahre 1905 dieses Verfahren zur Feststellung von Kindern mit „geistiger Inferiorität“ vor. Es beinhaltete:
„1 Ärztliche Untersuchung (,medizinische Methode‘) zur Aufdeckung der anatomisch-physiologischen Ursachen, geistiger Inferiorität‘.
2 Schulleistungsprüfung (,pädagogische Methode‘) zur Feststellung des Wissensbestandes und der Fertigkeit in den Kulturtechniken.
3 Intelligenzprüfung (,psychologische Methode‘) zur Feststellung, ob schon von der Anlage her eine geistige Minderbegabung als Ursache für das Schulversagen vorliegt.“ (Kautter / Munz 1974, 291).
Es ergibt sich die Überlegung, ob und inwieweit die vorhandenen psychologisch-pädagogischen und auch medizinischen Methoden der Gegenwart sich als Entscheidungshilfen zur Förderung von Kindern mit Auffälligkeiten, Störungen und Behinderungen eignen. Auch wenn wir es zunächst mit diagnostischen Problemen zu tun haben, erhält die pädagogisch-heilpädagogische Fragestellung (Bundschuh 2010, 32–37) den Vorrang. Im Zentrum stehen Kinder, allgemein sich lebenslang entwikkelnde Menschen mit mehr oder weniger großen Problemen, Beeinträchtigungen und Behinderungen, ihnen muss geholfen werden.
In diesem Zusammenhang gelten an sich teilweise immer noch folgende aus den Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates (1973) abgeleitete Prioritäten:
a) Prophylaxe von Schulversagen und Lernbehinderung,
b) Schulprobleme beheben sowie Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen – ggf. durch therapeutische Maßnahmen – aufarbeiten und therapieren,
c) Vermittlung von Kenntnissen, Einstellungen und Fertigkeiten mit der Zielrichtung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.
So wird die Aufgabe der Erörterung der Problematik „sonderpädagogisch-psychologische Diagnostik“ als „Förderdiagnostik“ vor allem mit der Erkenntnis verbunden sein, dass es um Informationsgewinnung zwecks Hilfe in einer Not- und Problemsituation und damit um Verstehen und Förderung geht. Der heilpädagogische Aspekt steht im Vordergrund.
Unter Berücksichtigung dieses Aspektes erfolgt in Kapitel 2ein kurzer Überblick zur Geschichte der Intelligenzdiagnostik unter Berücksichtigung sonderpädagogischer Aspekte.
Kapitel 3thematisiert Aufgaben, Funktionen und Bereiche, Ziele und Fragestellungen der aktuellen sonder- und heilpädagogischen Diagnostik.
Das vierte Kapitel behandelt testtheoretische Voraussetzungen zur Durchführung sonder- und heilpädagogischer Diagnostik. Es gibt eine kritische Einführung in das Verständnis notwendiger testtheoretischer Grundlagen. Dabei werden grundsätzliche Kompetenzen vermittelt, über die professionell diagnostizierende Lehrer an Förderschulen, sonderpädagogischen Förderzentren, in heilpädagogischen Einrichtungen und im Bereich Lerntherapie verfügen müssen.
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