Die von Griechen und Römern als Barbaren bezeichneten Kelten und Germanen dagegen nutzten die unberührte Natur und jagten und sammelten dort, was sie zum Leben brauchten. Die Figuren aus „Asterix und Obelix“ legen hiervon Zeugnis ab. Die „Barbaren“ haben keine typische Kulturpflanze, stattdessen aber ein typisches Tier: das Schwein. Steht die griechisch-römische Antike unter dem ethischen Gebot der Mäßigung, das die Nahrungsaufnahme mit einschließt, so dominiert bei den „Barbaren“ die gegenteilige Vorstellung: Ein wahrer Mann zeichne sich darüber aus, dass er so viel wie möglich an Fleisch und Alkohol zu sich nehmen könne.
„Eine tiefe Kluft trennte die ‚römische‘ Welt von der ‚barbarischen‘ . . . und tatsächlich müssen wir eingestehen, daß zwei Jahrtausende gemeinsamer Geschichte nicht ausgereicht haben, ihre Spuren zu beseitigen.“ (Montanari 1993, 22)
Diese Feststellung von Montanari besitzt noch immer ihre Gültigkeit. Dies lässt sich daran erkennen, dass z. B. die Deutsche Gesellschaft für Ernährung die mediterrane Kost als ideale Nahrungsform begreift und mit diesem Ideal gegen die maßlose und fleischorientierte „barbarische“ Kostform zu Felde zieht. Das bedeutet auch, dass wir heutzutage noch immer im Konfliktfeld dieser beiden Kostformen leben.
In einer prototypischen Familie mag es noch immer vorkommen, dass der Vater auf dem täglichen Fleischgericht besteht. Für ihn ist dies Ausdruck von Wohlstand und Sozialprestige. Die Tochter giftet ihn mit ökologischen Argumenten an und ernährt sich vegetarisch. Dem Sohn ist dies alles ziemlich gleichgültig, und die Mutter versucht, Grünkernbratlinge einmal die Woche in den Speiseplan zu integrieren.
Die beiden Ernährungstraditionen spiegeln sich auch in unterschiedlichen Arten von Restaurants wider. Je nobler ein Restaurant ist, umso kleiner sind die Portionen, je ländlicher ein Gasthaus ist, umso stärker müssen die Teller beladen sein.
Kirche contra „Barbaren“
Eigentlich hätte die mediterrane Kost an Bedeutung verlieren müssen, da die „Barbaren“ Rom besiegten und bekanntlich der Sieger sich auch kulturell durchsetzt. Wenn da nicht die römischkatholische Kirche die antike Tradition fortgeführt hätte und auf ihrem Siegeszug durch Europa Brot, Wein und Öl zu den Symbolen des neuen Glaubens gemacht hätten.
1.3 Kulturelle und soziale Lebensmittelpräferenzen
In seinem Klassiker „Wohlgeschmack und Widerwillen – Die Rätsel der Nahrungstabus“ (1988) ist Harris der Frage nachgegangen, warum in einigen Kulturen Kühe nicht gegessen werden dürfen, in anderen keine Schweine. In unserer Kultur neigen wir dazu, weder die Hauskatze noch den Haushund zu verspeisen. Auch Insekten haben es uns nicht angetan. Harris sieht die jeweiligen Nahrungstabus nicht als willkürliche und irrationale Setzungen einer Kultur an, sondern begreift sie als höchst rational, auch wenn diese Rationalität nicht bewusst ist. Sein Resümee lautet: Eine Kultur verbietet das, was das Überleben dieser Kultur erschwert, was ihre Ernährungssituation beeinträchtigen würde (alternative Theorien zu der von Harris werden weiter unten aufgezeigt).
Wenn jemand in unserer Kultur einer westlichen Industrienation den kleinen Pudel am Sonntagmittag als Festbraten nicht verzehren will, so handelt es sich hierbei nicht um einen individuellen Tick, sondern um das Einhalten einer kulturellen Norm. Harris führt das europäische Tabu des Verbots, Haustiere zu verspeisen, u. a. darauf zurück, dass Haustiere in unserer Kultur wichtige andere Funktionen erfüllen und als Proteinlieferanten weniger Bedeutung haben.
identitätsstiftende Zivilisation
Von Montanari (1993) stammt das eben skizzierte Beispiel zweier Ernährungstraditionen und damit verbundener Lebensmittelpräferenzen (mediterran vs. „barbarisch“), die sich ungemein beharrlich über Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende, aufrechterhalten. Von der Mentalitätsgeschichtsschreibung wird diese „Schwerfälligkeit“ einer Kultur als spezifisches Charakeristikum einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Zivilisation begriffen. Eine Zivilisation zeichnet sich gerade dadurch aus, dass bestimmte Werte und Strukturen die Jahrhunderte überdauern. Ernährung ist insofern auch zivilisationsstiftend, und diejenigen Menschen, die sich auf eine bestimmte Weise ernähren, fühlen sich so einer bestimmten Kultur zugehörig. In dieser Perspektive könnte man den geschichtlichen Prozess als sehr langsam begreifen, wenn man diesbezüglich dann überhaupt noch von Prozess sprechen kann.
Von dieser Langsamkeit zeugt auch die Einführung neuer Lebensmittel, die z. B. aus der Neuen Welt nach Europa gebracht wurden. Kartoffel und Mais wurden, obwohl sie bereits sehr viel früher als genügsame und ertragreiche Pflanzen den Hunger erheblich hätten lindern können, von der Bevölkerung nur sehr zögerlich angenommen (Prahl/Setzwein 1999). Es dauerte Jahrhunderte, bis sie akzeptiert waren. Und der Mais hat sich, weil er den Geruch, die Nahrung der armen Leute zu sein, nie ablegen konnte, bei uns nicht richtig durchgesetzt (Montanari 1993).
Was soll uns das Beispiel der Einführung von Kartoffel und Mais sagen? Vor den individuellen Lebensmittelpräferenzen liegen die kulturellen, die kollektiven. Vor den individuellen Präferenzen liegen aber auch die sozialen. Diejenigen Lebensmittel sind attraktiv, die die oberen sozialen Schichten konsumieren. Die unteren Schichten imitieren häufig das, was „oben“ geschieht (Elias 1978). Also auch hier ist die individuelle Präferenz sekundär.
kollektives Trinken – einsamer Zecher
Beim Drogenkonsum lassen sich ebenfalls kulturelle Präferenzen erkennen. Darauf macht Spode (1999) aufmerksam. So sei es eine Besonderheit des neuzeitlichen europäischen Alkoholkonsums, dass der exzessive Rausch als kollektives Erleben als unstatthaft gilt. Dieser sei früher legitim gewesen: „Ein Beispiel hierfür ist die Selbstverständlichkeit des Erbrechens beim archaischen Trinkgelage.“ (29) Bis zur Neuzeit habe man dagegen den „einsamen Zecher“ nicht gekannt. Auch die Mengen des Konsums scheinen kulturell-historischen Prozessen zu unterliegen. So wurden im frühen Mittelalter Mönchen in St. Gallen täglich fünf Maß Bier automatisch zugeteilt. Auch wenn das Bier damals vielleicht nicht den gleich hohen Alkoholanteil wie heute hatte, würden wir heutzutage eine tägliche Ration von fünf Maß Bier zumindest als sehr bedenklich einstufen. Aber auch zu Beginn der Neuzeit wurden Mengen an Bier getrunken, die heute in unserer Kultur nicht mehr denkbar wären: „Im 15./16. Jh. galt bei Adel und wohlhabenden Bürgern ein Jahreskonsum um 1000 Liter, teils auch das Doppelte, als gesund und standesgemäß.“ (39) Auch dass Kaffee- und Teegenuss in den letzten beiden Jahrhunderten den Konsum von Alkohol zurückgedrängt haben (Teuteberg 1999; Rothermund 1999), ist zunächst ein kultureller Prozess und erst dann ein individueller.
Zwang zur Individualität
Bisher konnte mit Hilfe einiger Beispiele gezeigt werden, dass unsere Ernährungsgewohnheiten weit weniger individuell ausgeprägt sind, als wir vermutlich erwartet haben. In den Zeiten der Individualisierung, in denen jeder Mensch seinen unverwechselbaren und eigenen Weg gehen muss (Beck-Gernsheim 1993), fühlen wir uns verpflichtet, in allem besonders individuell und einzigartig zu sein – auch bei der Nahrungsaufnahme. Deshalb favorisieren wir die Ausblendung kultureller und geschichtlicher Faktoren, die uns leider klar machen, dass die Kultur sehr viel darüber bestimmt, was und wie wir essen und was wir nicht essen (Ventura/Worobey 2013; Anderson 2014).
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