BERATUNG UND BESCHLUSSFASSUNG IM BUNDESTAG
Zentrales Organ der Gesetzgebung ist der Deutsche Bundestag als gewählte Volksvertretung. Dieser behandelt Gesetzesentwürfe in der Regel in drei Lesungen. Am Ende der ersten Lesung steht die Überweisung des Entwurfs an einen oder mehrere Ausschüsse. Im Anschluss an die Beratungen in den Ausschüssen finden die zweite und dritte Lesung statt. Während in der zweiten Lesung hauptsächlich Änderungsanträge vorgebracht werden, ist die dritte Lesung regelmäßig der Schlussabstimmung vorbehalten.
BUNDESRAT
Alle im Bundestag verabschiedeten Gesetze werden dem Bundesrat zugeleitet. In einem sog. zweiten Durchgang sind die Handlungsmöglichkeiten des Bundesrates davon abhängig, ob der Gesetzesbeschluss seiner Zustimmung bedarf oder nicht. Die zustimmungspflichtigen Gesetze können ohne sein positives Votum nicht in Kraft treten. Ob ein Gesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf, richtet sich nach dem GG (vgl. z.B. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 79 Abs. 2 GG; Art. 104a Abs. 3, 4, 5 und Art. 105 Abs. 3 GG). Bis zur Durchführung der sog. Föderalismusreform war dies bei über 60% der Gesetzgebungsverfahren der Fall, insbesondere weil die Länder in ihren Verwaltungsaufgaben betroffen waren. Nun soll nur noch etwa ein Viertel bis ein Drittel der Gesetze der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, da die Länder das Verwaltungsverfahren nun selbst abweichend von den bundesrechtlichen Regelungen regeln dürfen (vgl. in Art. 84 Abs. 1 GG). Im Übrigen bedürfen Bundesgesetze, die das Verwaltungsverfahren regeln, weiterhin der Zustimmung des Bundesrates (vgl. z.B. Art. 84 Abs. 1 S. 5, Abs. 2 GG). Ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz kommt zustande, wenn der Bundesrat zustimmt, den Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 GG nicht stellt, innerhalb der Frist des Art. 77 Abs. 3 GG keinen Einspruch einlegt oder ihn zurücknimmt oder wenn der Einspruch vom Bundestage überstimmt wird (Art. 78 GG).
Aufgrund der Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union hat das Grundgesetz – wie auch das nationale Verfassungsrecht der anderen EU-Staaten – seine Bedeutung als höchstrangige Rechtsquelle z. T. verloren (zum Recht der Europäischen Union s. 1.1.5).
1.1.3.2 Parlamentsgesetze
Gesetz
Neben dem Verfassungsrecht bilden vor allem die Gesetze die wesentliche Rechtsgrundlage für die Tätigkeit der Sozialverwaltung und der Sozialen Arbeit insgesamt. Das Parlamentsgesetz ist der Prototyp einer Rechtsnorm. Bei einem „Gesetz im formellen Sinn“ handelt es sich dabei um eine Rechtsvorschrift, die von der Legislative in dem verfassungsmäßig vorgeschriebenen Verfahrensweg erlassen worden ist (im Hinblick auf Bundesgesetze vgl. Art. 70 ff. GG und Übersicht 3).
Hinsichtlich des Inhalts muss ein Gesetz allgemeinverbindliche Regelungen enthalten. Man sagt auch, eine Rechtsnorm ist ein Gesetz im materiellen Sinn (d. h. dem Inhalt nach), wenn es
■ eine verbindliche Regelung
■ für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen
■ gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Personen enthält.
Die meisten Gesetze sind solche im formellen und materiellen Sinn, da die Parlamente (Bundestag/-rat, Landtage) in großem Umfang von ihrer Gesetzgebungskompetenz Gebrauch machen, die ihnen im Grundgesetz und in den jeweiligen Länderverfassungen zugestanden ist. Wann der Bund oder ein Land Gesetze erlassen darf, ist in Art. 70 ff. GG und Art. 105 GG abschließend geregelt.
1.1.3.3 Rechtsverordnungen
Auch eine Rechtsverordnung ist dem Inhalt nach eine Rechtsnorm und damit ein Gesetz im materiellen Sinn, denn sie ist eine verbindliche Regelung für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Personen. Der wesentliche Unterschied zu den „richtigen“ (Parlaments-)Gesetzen besteht darin, dass Rechtsverordnungen nicht von der Legislative erlassen werden, sondern von Organen der vollziehenden Gewalt (Exekutive). Um eine Rechtsverordnung zu erlassen, bedürfen diese freilich einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung (Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG), d. h. sie dürfen nur im Auftrag der Legislative tätig werden (vgl. z. B. §§ 6a, 13 SGB II; §§ 47, 109, 163 SGB III; § 17, 28c SGB IV; §§ 35a, 92 SGB V; § 69 SGB VI; § 9 SGB VII; §§ 78g Abs. 4, 94 Abs. 5 SGB VIII; §§ 29 Abs. 2, 40, 60 SGB XII; §§ 55a, 556 Abs. 1, 558c Abs. 5, 577a Abs. 2, 1316 Abs. 1 BGB; Art. 238 EGBGB).
Die meisten Rechtsverordnungen werden zur Durchführung und Ausführung von Gesetzen erlassen. Sie konkretisieren oft Rechte und Pflichten des Bürgers und nehmen dadurch der Verwaltung die Möglichkeit, bei nichteindeutiger Regelung im Gesetz eine den Bürger benachteiligende Auslegung zu vertreten.
Zum Fall Berger: Zentrale Voraussetzung für den Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung ist nach § 7 Abs. 1 Nr.3 SGB II – dem Parlamentsgesetz – die sog. Hilfebedürftigkeit. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insb. von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Nach § 11 SGB II sind als Einkommen zunächst alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert – abzüglich der abzusetzenden Freibeträge nach § 11b SGB II – zu berücksichtigen, mit Ausnahme der in § 11a SGB II genannten Einnahmen. Der Bundesgesetzgeber hat allerdings in § 13 SGB II das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen auch ohne Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung u. a. zu bestimmen, welche weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind und wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist (s. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Alg II–V). Nach §§ 11 ff. SGB II ergibt sich, dass das Einkommen des Herrn Berger, das er für das Zeitungsaustragen erhält, angerechnet werden muss. Demgegenüber werden nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Alg II–V bei Sozialgeldempfängern, die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Einnahmen aus Erwerbstätigkeit, soweit sie einen Betrag von 100 € monatlich nicht übersteigen, also hier das Geld, das die Tochter durch das Babysitten verdient, nicht angerechnet.
1.1.3.4 Satzungen
Die öffentlich-rechtliche Satzung ist ungeachtet desselben Begriffes und ähnlicher Funktionen von den privatrechtlichen Organisationsvorschriften rechtsfähiger Vereine nach § 25 BGB zu unterscheiden (vgl. hierzu II-1.1). Satzungen des öffentlichen Rechts sind Rechtsvorschriften, die alle Personen im Wirkungskreis einer Selbstverwaltungseinheit berechtigen und verpflichten oder organisatorische Regelungen für den Bereich der Selbstverwaltung enthalten können. Sie sind damit Rechtsnormen (Gesetze im materiellen Sinn), denn es handelt sich um verbindliche Regelungen für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen, die sich an eine unbestimmte Vielzahl von Personen richten. Die Befugnis zur Rechtssetzung durch Satzungen ist bestimmten juristischen Personen des öffentlichen Rechts (nur) zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten verliehen. Von besonderer Bedeutung ist der Erlass von Satzungen für die Gebietskörperschaften (Gemeinden, Landkreise, Bezirke) oder die Sozialversicherungsträger. Den Kommunen ist diese Autonomie ausdrücklich in Art. 28 Abs. 3 GG zugesichert. Allerdings ist diese Regelungsbefugnis auf die Verwaltung der eigenen Angelegenheiten begrenzt. Zu weitergehenden Eingriffen in die Rechtssphäre des Bürgers bedarf es einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung.
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