Recht ist das Produkt menschlichen Handelns, es ist das Produkt eines gesellschaftlich-politischen Prozesses (vgl. hierzu ausführlich Behlert 1990, 18 ff.). Pluralistische Gesellschaften sind gekennzeichnet durch das Zusammenleben von Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen politischen, ökonomischen und sozialen Interessen. In diesem gesellschaftlichen Interaktionsprozess werden sie versuchen, ihre Lebenschancen zu sichern und zu erweitern. Insoweit der Bestand an Rechtspositionen nur auf Kosten der Verringerung der Lebenschancen von anderen erweitert werden kann, werden sich unterschiedliche, widerstreitende Interessen gegenüberstehen. Deshalb kommt es notwendigerweise zu einer Unvereinbarkeit und einem Widerstreit von Interessen, zu Interessenskonflikten. Anders als noch bei den Gesellschaftsmodellen von Emile Durkheim, Talcott Parsons und Max Weber ist aus heutiger Sicht der Konflikt als solcher weder systemstörend, dysfunktional noch negativ, sondern kann auch als treibende Kraft im Prozess des sozialen Wandels notwendig sein (Dahrendorf 1961, 112 ff.; Galtung 1984, 129 ff.). Recht kann insofern als institutionalisierte Konfliktlösung angesehen werden, ohne damit gleich einem harmonisierenden Wunschbild zu verfallen. Die Rechtsordnung als Segment der Gesellschaft ist kein konfliktfreier Raum. Als Produkt menschlichen Handelns ist Recht stets interessenvermittelt und als Mechanismus der Sozialkontrolle nicht nur Integrations-, sondern selbst auch Konfliktstruktur. In der Entstehung und Anwendung von Rechtsnormen drückt sich wie in allen anderen Gesellschaftsbereichen das jeweilige Kräfteverhältnis konkurrierender politischer, ökonomischer und sozialer Interessen aus. Hierbei werden sich diejenigen Gruppen durchsetzen, die hierzu die erforderliche Macht besitzen. Dabei ist heute aber nicht mehr nur an einen kleinen Kreis der ökonomischen Elite zu denken, die sich in einer globalisierten Welt ohnehin zunehmend nationalen Rechtsordnungen entzieht, sondern vor allem an einflussreiche Gruppen staatlicher Institutionen (Justiz und Ministerialbürokratie), Personen und Organisationen, die auf die Sicherung ihres Status bedacht sind, an die Lobbyisten und sog. Moralunternehmer, die ihre Moral- und Wertvorstellungen für alle verbindlich machen wollen. Die Rechtsordnung als Konfliktfeld zu begreifen, schließt die Möglichkeit zum Konsens nicht aus. Wahrer Konsens ist freilich nur möglich unter den idealisierten Bedingungen unbeschränkter und herrschaftsfreier Kommunikation autonomer Individuen.
„Wir wären nur dann legitimiert, das tragende Einverständnis … mit dem faktischen Verständigtsein gleichzusetzen, wenn wir sicher sein dürfen, daß jeder im Medium der sprachlichen Überlieferung eingespielte Konsens zwanglos und unverzerrt zustande gekommen ist“ (Habermas 1971, 154).
Der Konsens darf allerdings in einer Demokratie nicht – wie von der Konsenstheorie suggeriert – vorausgesetzt werden, sondern ist stets nur das vorläufige und stets abänderbare Ergebnis eines politischen Prozesses.
Die Definition von Recht ist bis heute einem kontinuierlichen Wandel unterworfen. Denn zum einen ändern sich permanent seine normativen Inhalte: Was gestern verboten war (z. B. Prostitution, homosexuelle Handlungen), kann heute erlaubt sein, was in dem einen sozialen Kontext erlaubt ist, ist in einem anderen verboten (vgl. z. B. die unterschiedlichen ehe- und strafrechtlichen Bestimmungen in der Türkei und die Diskussion über die Angleichung der türkischen Rechtsordnung an die Werte- und Rechtsordnung der EU). Recht und soziale Kontrolle dürfen nicht zu starr sein, denn der soziale Wandel lässt sich nicht verhindern. Eine dies ignorierende starre Rechtsordnung müsste zum Auseinanderbrechen des Systems führen. Zum anderen aber war zu sehen, dass Recht noch nicht begriffen werden kann, wenn man nur diese normativen Inhalte im Blick hat, ohne nach den gesellschaftlichen Gegebenheiten für deren Umsetzung im sozialen Handeln der Menschen zu fragen oder danach, inwiefern in ihm allgemeine gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen zum Ausdruck gebracht sind. Wiederum von Kant stammt der einprägsame Vergleich eines rein normativ begriffenen Rechts mit einem Kopf, „der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat“ (Kant 1797, 336). Will man daher am Ende doch eine Definition von Recht versuchen, so könnte diese in Anlehnung an Ralf Dreier lauten, dass es sich beim Recht um die Gesamtheit der Normen handelt, die zur Verfassung eines staatlich organisierten oder zwischenstaatlichen Normensystems gehören bzw. die gemäß dieser Verfassung gesetzt sind, sofern sie im Großen und Ganzen sozial wirksam sind und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweisen (vgl. Dreier 1991, 116).
1.1.3 System der heutigen Rechtsnormen
Normen werden von unterschiedlichen Quellen (s. 1.1.2) gespeist, sie werden von unterschiedlichen Institutionen erlassen, sie richten sich an unterschiedliche Adressatenkreise und besitzen einen unterschiedlichen Grad an Verbindlichkeit. Recht ist ein Gefüge sozialer Normen, die allen Mitgliedern der Gesellschaft ein bestimmtes Verhalten verbindlich vorschreiben und deren Einhaltung durch staatliche Instanzen notfalls auch mit Zwang garantiert wird. Der moderne Rechtsstaat setzt dabei auf das geschriebene Recht. Ein Rechtssatz oder eine Rechtsnorm ist ein verbindliches Gebot oder Verbot, welches die folgenden fünf Wesensmerkmale aufweisen muss:
■ Rechtsnormen gelten für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen (abstrakte Regelung). Um möglichst alle zukünftigen Konfliktsituationen zu regeln, sind Normtexte so abstrakt wie möglich formuliert, worunter allerdings die Verständlichkeit für den „Normalbürger“ leidet.
■ Rechtsnormen richten sich grds. an eine unbestimmte, bei ihrem Erlass nicht feststehende Vielzahl von Personen (generelle Regelung). Zwar mag ein einzelner Fall Anlass zu einer gesetzlichen Regelung geben, ein Einzelfallgesetz (welches nur einen konkreten Fall oder einen ganz bestimmten Adressaten betrifft) ist allerdings verfassungswidrig (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG).
■ Rechtsnormen werden von dem (verfassungsrechtlich) zur Rechtssetzung befugten Organ (z. B. dem Parlament, hierzu 2.1) in einem formell festgelegten Verfahren erlassen und
■ bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der amtlichen Publikation in bestimmten Verkündungsorganen (z. B. dem Bundesgesetzblatt oder den Mitteilungsorganen der Länder und Kommunen).
■ Für Rechtsnormen ist ferner charakteristisch, dass sie unmittelbar kraft staatlichen Geltungswillens verbindlich sind und zu ihrer Durchsetzung notfalls staatlicher Zwang angewendet werden kann. Insbesondere hierin unterscheidet sich das Recht von anderen gesellschaftlichen Konventionen, von Sitten und Gebräuchen.
Recht und Gesetz – Begrifflichkeiten
Mit einem zunächst auf das innerstaatliche Rechtssystem beschränkten Blick (zum unmittelbar geltenden europäischen Gemeinschaftsrecht und sonstigem internationalen Recht vgl. 1.1.5) lassen sich Rechtsnormen in vier Gruppen einteilen, wobei man insb. ursprüngliche und abgeleitete Rechtsnormen unterscheidet. Ursprüngliche Rechtsnormen werden vom Volk selbst oder von den verfassungsgemäß hierzu berufenen Organen erlassen. Man bezeichnet diese auch als formelle Gesetze, weil sie auf parlamentarischem Wege zustande gekommen sind (s. 1.1.3.2). Hiervon abgeleitete Rechtsnormen erlässt die vollziehende Gewalt (Exekutive: Regierung und Verwaltung) aufgrund einer besonderen Ermächtigung des ursprünglichen Normgebers bzw. sog. Selbstverwaltungsträger (z. B. Kommunen oder Sozialversicherungen, s. 4.1.2.1) aufgrund der ihr verliehenen Regelungsautonomie. Soweit von der Rechtsnorm unmittelbare Rechtswirkungen für den einzelnen Bürger ausgehen, spricht man von einem Gesetz im materiellen Sinn. Man spricht dagegen von einem Gesetz im nur formellen Sinn, wenn das Gesetz zwar in dem verfassungsmäßig vorgeschriebenen Verfahren durch die Legislative beschlossen worden ist, von ihm aber keine unmittelbaren Rechtswirkungen nach außen ausgehen. Dies ist z. B. bei den Ratifizierungsgesetzen zur Übernahme völkerrechtlicher, internationaler Abkommen oder bei den sog. Haushaltsgesetzen der Fall.
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