Darüber hinaus besteht eine Veröffentlichungspflicht für solche (abstrakt-generellen) Regelungen der Exekutive, deren Zweck es ist, letztlich doch rechtliche Außenwirkung gegenüber dem Bürger zu entfalten, und die auf diese Weise dessen subjektiv-öffentlichen Rechte unmittelbar berühren (BVerwGE 94, 335 zur Regelsatzfestsetzung durch Verwaltungsvorschrift), wenn formal in Verwaltungsvorschriften getroffene Ausführungsbestimmungen nach ihrem Inhalt darauf gerichtet sind, im Außenverhältnis in derselben Weise in subjektive Rechte einzugreifen, bzw. sich als anspruchskonkretisierende Regelung erweisen (BVerwG 25.11.2004 – 5 CN 1.03 – NDV-RD 2005, 25 ff.). Das BVerwG spricht hier sogar atypisch von einer unmittelbaren Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften. Ein Beispiel hierfür wäre die unter III-7.5.2 besprochene Allgemeine Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Innern zum Staatsangehörigkeitsrecht (StAR-VwV). Entfaltet eine VV eine derartige Außenwirkung, so ist es rechtsstaatlich geboten, sie so bekannt zu geben, dass die davon Betroffenen Kenntnis vom Inhalt nehmen können (vgl. BVerfGE 40, 237). Die Bekanntgabe muss dann umfassend den gesamten Inhalt der Verwaltungsvorschriften wiedergeben, eine selektive, erläuternde Wiedergabe des Inhalts von Verwaltungsvorschriften ist nicht ausreichend. Sie muss in ordnungsgemäßer Form regelmäßig in den für die Veröffentlichung von Rechtsnormen vorgeschriebenen amtlichen Medien erfolgen, die Verwendung von Merkblättern o. Ä. reicht dafür nicht aus (BVerwG 25.11.2004 – 5 CN 1.03 – NDV-RD 2005, 25 ff.).
Zum Einstiegsfall „Berger“: Nach § 19 Abs. 1 SGB II besteht für Herrn Berger (als erwerbsfähigem Leistungsberechtigten) ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II bzw. für seine mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden nicht erwerbsfähigen Kinder ein Anspruch auf Sozialgeld (im Einzelnen hierzu III-4.1.6). Die Leistungen umfassen nach § 19 Abs. 1 S. 3 SGB II den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung. Der Anspruch auf laufende Hilfen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst nach § 20 Abs. 1 SGB II somit zunächst den sog. Regelbedarf, insb. Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat (im SGB XII heißen die pauschalierten Leistungsbestandteile – anders als im SGB II – „Regelsatz“). Für den Fall entscheidend ist nun die Frage, ob die Jacke und der Schulausflug vom Regelbedarf umfasst sind oder zusätzlich geleistet werden können. Sog. Mehrbedarfe als laufende Leistungen (§ 21 SGB II) und sog. einmalige Bedarfe (§ 24 Abs. 3 SGB II: „Abweichende Erbringung von Leistungen“) werden nur unter den entsprechenden Voraussetzungen gewährt. Nach § 20 Abs. 1 S. 3 SGB II wird der Regelbedarf als monatlicher Pauschalbetrag geleistet, über dessen Verwendung die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich entscheiden, wobei sie das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen haben.
Bis auf die in §§ 21 ff. SGB II genannten Ausnahmen sind die Kosten für Anschaffungen, Unternehmungen etc. in den Regelbedarfen enthalten. Nicht nur Hausrat und Kleidung, sondern auch Ausgaben für besondere Anlässe sind grds. vom Regelbedarf (bzw. im SGB XII vom Regelsatz) umfasst. Sinn und Zweck der Regelung (teleologische Auslegung, hierzu 3.3.2) ist es einerseits, die Leistungserbringung mit möglichst wenig Verwaltungsaufwand zu gestalten, und andererseits, die Selbstverantwortung des Leistungsempfängers zu fördern, einen Teil der monatlichen Leistungen anzusparen, um bei entstehendem Bedarf auch größere Anschaffungen zu tätigen. Als „einmalige“ Bedarfe (§ 24 Abs. 3 SGB II) werden nur bestimmte Leistungen, die nicht beständig bezogen werden müssen, gesondert erbracht. Auch die durch das sog. Bildungspaket 2011 eingeführten „Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft“ (s. III-4.1.6.2) werden nach § 28 SGB II bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen neben dem Regelbedarf gesondert berücksichtigt.
Zwischenergebnis: Rechtsnormen, hier das SGB II, legen den Inhalt der den Regelbedarf deckenden Regelsätze für die laufenden Leistungen der Grundsicherung fest. Die Bekleidung ist demnach grds. vom laufenden Bedarf umfasst. Eine Ausnahme (Erstausstattung; Schwangerschaftskleidung) nach § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II liegt bei der von der Tochter von Herrn Berger gewünschten Jeansjacke nicht vor. Diese wird Herr Berger bzw. seine Tochter entweder von erspartem Geld kaufen müssen oder er muss mit seiner Tochter das notwendige, unter Umständen bei pubertierenden Jugendlichen nicht einfache Gespräch suchen, weshalb diese meint, ohne eine solche Jacke nicht am Schulleben teilnehmen zu können. An die Rechtsberatung könnte sich insoweit also ggf. eine (informelle) Erziehungsberatung des JA (§ 16 Abs. 2 S. 2, § 28 SGB VIII; hierzu III-3.3) anschließen.
Im Hinblick auf die Kosten für die Klassenfahrt beruft sich das Jobcenter der Stadt G. auf die Verwaltungsvorschriften VV-Grund. Der in § 20 Abs. 1 S. 2 SGB II genannte Begriff „Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben“ ist unbestimmt und bedarf der Auslegung (hierzu 3.3.2), weshalb die Verwaltungen häufig Verwaltungsvorschriften zur einheitlichen Ausübung erlassen (hier s. o. § 5 Abs. 2 der VV-Grund). Nach der Auffassung des Jobcenters sind Schulaktivitäten grds. vom Regelbedarf umfasst und daher nicht gesondert zu erstatten. Allerdings sind Schulausflüge und mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen ausdrücklich nicht vom Regelbedarf umfasst, sondern als einmaliger Bedarf anerkannt (§ 28 Abs. 2 SGB II). Eine „mehrtägige“ Klassenfahrt beginnt nicht erst ab einer Woche, sondern – ungeachtet des vielleicht mehrdeutigen Wortlauts im Hinblick auf die Gegenüberstellung mit (eintägigen) Schulausflügen – bereits ab zwei Tagen. Die in der VV-Grund vorgenommene Definition widerspricht damit dem Gesetz und darf der Verwaltungsentscheidung nicht zugrunde gelegt werden, auch wenn diese „an sich“ für die Mitarbeiter intern verbindlich ist. Auch die Pauschalierung des Zuschusses nach § 5 Abs. 4 VV-Grund steht im Widerspruch zu § 28 Abs. 2 SGB II, wonach bei mehrtägigen Klassenfahrten die tatsächlichen Aufwendungen zu übernehmen sind, anders als bei den einmaligen Bedarfen, die nach § 24 Abs. 3 S. 4 SGB II auch als Pauschalbeträge erbracht werden können.
Empfehlungen
In zahlreichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit erarbeiten Verbände und Fachvereinigungen, Arbeitskreise und Arbeitsgemeinschaften „Empfehlungen“, „Richtlinien“ oder sonstige Arbeitshilfen. Die öffentlichen Leistungsträger werden durch diese Empfehlungen nicht gebunden. Allerdings können vorgesetzte Behörden bzw. Dienstvorgesetzte, z. B. die Bürgermeister und Landräte als Leiter der kommunalen Verwaltung, in Ausübung ihrer Weisungsbefugnis anordnen, dass alle Mitarbeiter bei der Ausführung ihrer Aufgaben derartige „Empfehlungen“ als Weisung zu beachten haben.
Gerichtsentscheidungen
Gerichtsurteile sind grds. keine Rechtsnormen. Gerichtsentscheidungen binden unmittelbar nur die an einem einzelnen Gerichtsverfahren beteiligten Personen (Parteien), nicht aber – anders als die höchstrichterlichen Entscheidungen im Bereich des angelsächsischen Common Law – die Gerichte selbst. Grund hierfür ist die Dreiteilung der Staatsgewalt (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Würden Gerichtsurteile jedermann binden, so hätten sie die Wirkung von Gesetzen, deren Erlass jedoch grds. den Parlamenten vorbehalten ist. Eine Ausnahme besteht nur bei bestimmten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die alle Verfassungsorgane und Behörden des Bundes und der Länder binden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG). Teilweise haben die Entscheidungen des BVerfG, insb. aufgrund eines sog. Normenkontrollverfahrens, durch das Vorschriften als verfassungswidrig erkannt werden, über den Einzelfall hinaus verbindliche Wirkung und damit ausdrücklich Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG).
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