Legitimität im Sinne des nicht hinterfragbaren, „nicht weiter ableitbare[n] Herrschaftsrecht[s] der historischen Dynastie“ verweist aus sich selbst heraus auf die zentrale Rolle von Monarchie und Dynastie im Europa der Wiener Ordnung.14
Das Europa des 19. Jahrhundert war und blieb vor allem ein monarchisches Europa. Die Monarchie überbrückte erfolgreich die Zäsur der Revolutionszeit: Sie hatte vom französischen Muster der Zentralisierung und Homogenisierung staatlicher Macht ebenso profitiert wie von einer weitgehenden Kooperation mit dem selbsternannten Kaiser der Franzosen, nun inszenierte sie sich als Garant von Frieden und Sicherheit. Die vom Kongress beschlossenen neuen Königskronen für Polen, die vergrößerten Niederlande und Hannover bezeugen die ungebrochene Attraktivität des monarchischen Grundmusters und den politischen Willen, die napoleonischen Rangerhöhungen für Bayern, Württemberg und Sachsen nachträglich zu kompensieren.
Das in der Präambel zur französischen Charte erstmals ausformulierte „monarchische Prinzip“ hatte eine doppelte Funktion: Einerseits stellte [<<15] es, etwa in der Denkfigur des Gottesgnadentums, die Kontinuität zur vorrevolutionären Epoche her, andererseits sollte es den Boden bereiten für den Nachweis der „Überlegenheit der Monarchie in der Fähigkeit … zur notwendigen Anpassung der Institutionen an die Bedürfnisse der neuen Zeit.“15 Als „Prinzip monarchischer Brüderlichkeit“ konkret zur Schau gestellt wurde es in Wien in der Inszenierung und Ikonographie der gemeinsamen Auftritte von Kaiser Franz I., Zar Alexander I. und König Friedrich Wilhelm III., der Sieger über Napoleon.16 Die Einzüge der drei Monarchen und ihre bildlichen Repräsentationen wiederholten in Frankfurt, Paris und London etablierte Muster und versinnbildlichten konkret die Praxis konzertierter Politik in Europa in den Jahren 1813–1815.
Im Modell der französischen Charte schloss die restaurierte Monarchie ein Bündnis begrenzter Reichweite mit dem Konstitutionalismus und akzeptierte die Bindung an ein Verfassungsdokument, betonte aber gleichzeitig den Vorrang der monarchischen Souveränität. Solche in der Regel durch einen einseitigen Willensakt des Herrschers erlassenen („oktroyierten“) Verfassungen frühkonstitutionellen Typs wurde zu einer wichtigen Signatur des vormärzlichen Europa.
Auch auf dem Wiener Kongress spielten geschriebene Verfassungen eine Rolle, etwa in der Selbstverpflichtung des Zaren, für sein neues Königreich Polen eine solche zu erlassen, oder bei der Neukonstitution der Niederlande. Von politisch zunächst durchaus erwünschter Doppeldeutigkeit war Art. 13 der Deutschen Bundesakte, der den Erlass einer „landständische[n] Verfassung“ „in allen Bundesstaaten“ vorsah. Der Streit, ob damit die Konstitutionen neuen Typs nach dem Modell der „Charte“ oder die altständischen Modelle des Ancien Régime gemeint waren, gewann in den Jahren nach dem Kongress an Brisanz und wurde [<<16] im Zuge der konservativen Wende der Bundespolitik bis 1820 im Sinne des altständischen Typus entschieden. Vorher waren freilich 1818–1820 in Bayern, Baden, Württemberg und Hessen-Darmstadt Repräsentativverfassungen neuen Typs in Kraft gesetzt worden.
Die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen blieben allerdings ohne Verfassung, und der Versuch, auch Drittstaaten auf solche antikonstitutionelle Politikmodelle zu verpflichten, kam nicht erst während der europäischen Mächtekonferenzen ab 1820 auf: Schon im Juni 1815 schloss Metternich einen Vertrag mit Ferdinand I., König von Neapel und Sizilien, in dem er entsprechenden Einfluss auf die Ausgestaltung der Institutionen des neu zu gestaltenden Doppelkönigreichs beider Sizilien nahm.
Um das politisch-rechtliche Regelsystem Europas, wie es im Rahmen der „Wiener Ordnung“ entstand, als Raum gemeinsam gelebter politischer Verantwortung handhabbar zu machen, bedurfte es der Instrumente für eine konkrete Umsetzung. Hierzu zählte vor allem der Mechanismus regelmäßiger multilateraler Konsultationen, wie er sich nicht nur in den bekannten Mächtekongressen in Aachen 1818, Troppau und Laibach 1820/21 sowie in Verona 1822 manifestierte, sondern auch in den Botschafterkonferenzen in Frankfurt, Paris und London, auf denen u. a. die im deutschen Raum offen gebliebenen Territorialfragen und die Abwicklung der französischen Kriegskostenentschädigungen besprochen wurden.17
Zu diesen als legitim eingeschätzten, da der Aufrechterhaltung des Friedens dienenden Instrumenten zählten auch punktuelle Interventionen in Drittstaaten mit bewaffneter Macht. Im Gedankenhaushalt aller politischen Entscheider von 1814/15 (nicht nur in jenem Metternichs) waren innenpolitische Stabilität und Austarieren des außenpolitischen Gleichgewichts eng aufeinander bezogen. Die generelle Kriegsmüdigkeit in Europa, die angespannte Situation der Staatsfinanzen, die in [<<17] der Erinnerung aller Politiker noch lebendige Verquickung innen- und außenpolitischer Konflikte im Verlauf der Französischen Revolution sowie ein gewisser Konsens unter den „bedingt reformwilligen konservativen Machthabern und Oligarchien“ führten zur politischen Verabsolutierung des Metternichschen Wertepaars „Ruhe und Ordnung“, bezogen auf die innere wie auf die äußere Politik. Wenn innere Unruhen, wie sie etwa auch die Forderung nach einer Verfassung auslösen konnte, in der Perzeption der Entscheidungsträger das Potential kriegerischer Auseinandersetzungen in sich bargen, dann musste, immer in der Logik dieser Perzeption, die Beseitigung von Aufstandsherden zugleich der Friedenswahrung dienen: „Der kleine Krieg sollte zum Ersatz für den vermiedenen großen werden.“18
Die Praxis der internationalen Politik zwischen 1815 und 1830/31 ist viel zu komplex, als dass sie in den gängigen Schlagworten vom „System Metternich“ oder vom „Kutscher Europas“ abgebildet werden könnte. Expansive Bestrebungen der Großmächte und staatenpolitische Konkurrenz spielten weiterhin ihre Rolle, zunehmend aufgeladen durch ideologische Differenzen. Die Schemata der Interventionspolitik in diesem Zeitraum folgten keinem eindeutigen Muster. Gehandelt wurde pro forma im Kollektiv nach gegenseitiger Absprache oder zumindest Information; wer intervenierte, legte Wert auf ein „Mandat“ zur Rechtfertigung. Am gängigen Bild von den demokratiefreundlichen Westmächten und den zur Oppression neigenden Ostmächten sind etliche Abstriche zu machen: Die Franzosen intervenierten 1823 in Spanien, und die Briten erkannten wohl allen kontinentalen Mächten ein Recht zur Intervention zu, lehnten aber jedes verbindliche, sie selbst einbeziehende Regelwerk völlig ab. Außerdem legten sie in verfassungspolitischen Fragen ganz andere Maßstäbe an als Wien oder Berlin. Da unter den Hauptakteuren der europäischen Politik keine verbindlichen Vorstellungen über die Grundprinzipien einer legitimen inneren Staatsordnung existierten, blieb auch das Recht, im Namen des europäischen Friedens zu militärischen Interventionsmaßnahmen zu greifen, stets umstritten. [<<18]
1Geisthövel, Restauration und Vormärz, S. 9.
2Sellin, Geraubte Revolution, S. 321. Fahrmeir, Europa, S. 104 spricht von einem „problematischen Etikett“.
3Hippel/Stier, Europa 1800–1850, S. 60.
4Fahrmeir, Europa, S. 1.
5Siemann, Metternich, S. 52f.; Fahrmeir, Revolutionen und Reformen, S. 143.
6Sellin, Geraubte Revolution, S. 12–18, 275–325.
7Lentz, Congrès, S. 63.
8Fahrmeir, Revolutionen und Reformen, S. 132.
9Langewiesche, Reich, Nation, Föderation, S. 116, 118.
10Langewiesche, Reich, Nation, Föderation, S. 118.
11Sellin, Geraubte Revolution, S. 17.
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