1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Bericht über die ersten Entwicklungsschritte eines jungen Wilden
Ein Kind von bis 12 Jahren wurde in den Wäldern von Caune gesichtet. Es war vollständig nackt, suchte Eicheln und Wurzeln als Nahrung. Gegen Ende des Jahres VII [das Jahr 1799 nach dem republikanischen Kalender, E.-R.] wurde es wieder am gleichen Ort von drei Jägern gesehen. Sie ergriffen es im Moment, als es auf einen Baum klettern wollte, um sich ihrer Verfolgung zu entziehen. In einen Weiler der Nachbarschaft geführt und der Obhut einer Witwe überlassen, entfloh es im Verlaufe einer Woche. Es suchte die Berge zu erreichen, wo es in der winterlichen Kälte herumirrte, kaum bedeckt mit einem zerrissenen Hemd. Während der Nacht zog es sich zurück an einsame Orte, am Tag näherte es sich den benachbarten Dörfern und führte so ein vagabundierendes Leben bis zum Tage, an dem es von sich aus in ein bewohntes Haus im Departement Saint-Sernin eintrat.
Es wurde wieder aufgenommen, überwacht und gepflegt während zwei oder drei Tagen […] Ein Minister, Gönner der Wissenschaften, glaubte, daß dieses Ereignis für die Kenntnis der menschlichen Natur aufschlußreich sein könnte. Er gab Anweisung, daß das Kind nach Paris gebracht werde. Dorthin kam es Ende des Jahres VIII in Begleitung eines armen und achtbaren Greises, welcher versprach, es wieder zu sich zu nehmen und an ihm Vaterstelle zu vertreten, wenn die Gesellschaft es verlassen sollte.
Übermäßige, ja unvernünftige Hoffnungen gingen in Paris der Ankunft des Knaben vom Aveyron voraus. Viele Neugierige machten sich ein Vergnügen daraus, sein Erstaunen beim Betrachten der schönen Dinge in der Hauptstadt zu sehen. Viele sonst durch ihre Einsicht bekannte Persönlichkeiten dachten nicht daran, daß unsere Organe umso weniger anpassungsfähig sind und die Nachahmung umso schwerer ist, je isolierter ein Mensch lebt und je älter er ist. Sie glaubten, daß die Erziehung dieses Individuums die Angelegenheit einiger Monate sei und daß man schon bald über sein vergangenes Leben die interessantesten Auskünfte bekommen könne. Was sah man statt dessen? Ein widerlich schmutziges Kind, von spastischen und zeitweise krampfartigen Zuckungen befallen, das sich ständig wie gewiße Tiere in einer Menagerie hin- und herwiegte. Es biß und kratzte seine Betreuer und war dann wieder ganz gleichgültig.
Es ist leicht begreiflich, daß ein solches Wesen nur vorübergehend die Aufmerksamkeit der Neugierigen reizen konnte. Man rannte in Massen herzu, man sah es, ohne es zu beobachten, man beurteilte es, ohne es zu kennen und dann sprach man nicht mehr davon. In der allgemeinen Gleichgültigkeit vergaßen die Leiter und der berühmte Direktor der staatlichen Taubstummenanstalten nicht, daß man diesem Kinde gegenüber Verpflichtungen übernommen hatte, die es zu erfüllen galt. Sie erhofften wie ich viel von einer medizinischen Behandlung und übergaben das Kind mir zur Pflege.“ ( Itard 1965, 17ff; Malson et al. 1972)
Itard scheitert
Nach fünf Jahren engagierter pädagogischer Arbeit resignierte Jean Itard. Die Fortschritte in der Entwicklung Victors waren sehr viel geringer, als Itard erhofft hatte; trotz großer Anstrengungen war es ihm z. B. nicht gelungen, Victor zum Sprechen zu bringen (eine psychoanalytische Deutung des Scheiterns von Itard findet sich bei Leber 1981).
Edouard Séguin
Aber nicht nur die Idee von der Bildbarkeit auch geistig behinderter Menschen war geboren, sondern es waren zudem erste Beweise für deren praktische Umsetzung erbracht. Es war ein junger Mitarbeiter Itards aus der Pariser Taubstummenanstalt, der den Faden Itards wieder aufgriff und mit großem Erfolg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterspann: der „Taubstummenlehrer“ und Arztsohn Edouard Séguin ( Pellicier/Thuillier 1996, 1979; Rohrmann 2013).
Condorcets Bildungsplan
Diderot formulierte nicht nur revolutionäre Bildungsideen, sondern er entwickelte auch eine Konzeption für das öffentliche Bildungswesen, das allen Kindern der Nation offenstehen und in dem alleine die Fähigkeiten und das Vermögen des Einzelnen, nicht aber der gesellschaftliche Stand über das Maß an Bildung für den Einzelnen entscheiden sollte ( Nieser 1992, 43ff).
Antoine de Condorcet
Fortgeführt wurde der Gedanke einer allgemeinen Bildung für alle durch Marie Jean Antoine de Condorcet (1767–1794), einem Gegenspieler der Jakobiner und ihres durch Le Peletier repräsentierten Erziehungskonzepts radikaler Gleichheit ( Hellekamps/Musolff 1999, 107ff). Condorcets liberaler Schulentwurf ging von einer natürlichen Gleichheit individueller Rechte bei gleichzeitiger Ungleichheit individueller Fähigkeiten aus, und er propagierte demgemäß ein gestuftes Bildungswesen, das aus Primarschulen, Sekundarschulen, Instituten und Lyzeen bestehen sollte. Auch wenn Condorcets Bildungsplan in Frankreich nicht in die Praxis umgesetzt wurde, so blieb dieser Entwurf doch bis auf den heutigen Tag Modell eines demokratischen Bildungswesens ( Michael/Schepp 1993, 84f).
Jean-Jacques Rousseau
Als sich Valentin Haüy 1786mit seinem Erziehungs- und Unterrichtsplan für blinde Kinder an den französischen König wandte, war es kein geringerer als Condorcet – Mitglied der Académie Française und der Académie des Sciences, Generalinspekteur der Staatsmünze –, den Haüy als Kronzeugen für seine erfolgreiche pädagogische Arbeit mit blinden Kindern benennen konnte. In seiner Eigenschaft als Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften hatte Condorcet im Februar 1785 einen Bericht über die ersten Unterrichtserfolge Haüys verfasst, in dem er nicht nur die außerordentlichen methodischen Fortschritte der Erziehung von Menschen mit Blindheit beschrieb, sondern zugleich auf das Wärmste die Etablierung einer Institution für die Erziehung und Unterrichtung blinder Kinder und Jugendlicher empfahl. Dabei erinnerte Condorcet ausdrücklich an die nur wenige Jahre zurückliegenden pädagogischen Erkenntnisse und Erfolge eines Abbé de l’Epée, der sich wie Haüy einer bislang vernachlässigten gesellschaftlichen Gruppe zugewandt hatte (Haüy 1990, Anhang).
Während John Locke und der Sensualismus in Deutschland einen geringeren Einfluss als in Frankreich ausübten, war hingegen ein anderer Vertreter der frankophonen Aufklärung im deutschsprachigen Raum von ungeheurer Wirkung, nämlich Jean-Jacques Rousseau (1712–1778).
Erziehungs- roman „Emile“
Sein Erziehungsroman „Emile oder über die Erziehung“ von 1762 fand begeisterte Aufnahme in Deutschland:
„Der Einfluß, den Rousseau auf die gesamte deutsche Aufklärung ausübt, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden; Lessing und Kant sind von ihm tief beeindruckt, die Philanthropen übersetzen seinen ‚Emile‘ und orientieren ihre Erziehungsvorstellungen zum Teil an ihm, ohne allerdings seiner Gesellschafts- und Kulturkritik zu folgen. Für Herder und den Sturm und Drang dagegen wird gerade dieser Teil von Rousseaus Gedanken zum Evangelium.“ (Nieser 1992, 217)
Pädagogik vom Kinde aus
Rousseaus Lehre von der natürlichen Erziehung, die kritische Distanz gegenüber Gesellschaft und Kultur, die Anerkennung einer eigenständigen kindlichen Entwicklung sowie die Entdeckung des Eigenrechts des Kindes ( Flitner 1957, 31ff; Blankertz 1982, 69ff), das Denken in Entwicklungsstufen – kurzum, eine „Pädagogik vom Kinde aus“ – sind die bahnbrechenden neuen pädagogischen Ideen, die auch jene erfasste, die sich den vernachlässigten, behinderten Kindern zuwendeten. So berief sich Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863) in seinem „Hülfsruf aus den Alpen, zur Bekämpfung des schrecklichen Cretinismus“ von 1840 neben anderen Kronzeugen ausdrücklich auf das Vorbild Rousseau, und Johann H. Pestalozzi gab aus Verehrung für Rousseau seinem Sohn den Vornamen Jean-Jacques.
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