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Und dennoch werden an die Erziehungstheorie Rousseaus gerade in der Gegenwart und vor dem Hintergrund der Erfahrungen einer ausgrenzenden Pädagogik im 20. Jahrhundert kritische Anfragen seitens der Sonderpädagogik gestellt. Indem Rousseau, zweifellos in exemplarischer Absicht, für sein Erziehungsexperiment bewusst ein gesundes und starkes Kind auswählte, schloss er all jene aus, die diesen Idealvorstellungen nicht entsprachen. Daraus den Schluss zu ziehen, dass Rousseau Kindern mit Behinderung keine Erziehung gewähren wollte, kann aus dem Kontext des Textes meines Erachtens nicht abgeleitet werden, aber es bleibt aus sonderpädagogischer Sicht das Problem, dass der imaginäre „durchschnittliche“ Educandus als anthropologisches Modell begrenzt ist und damit die Vielfalt menschlicher Existenz nicht umfasst. Haeberlin urteilt,
„dass Rousseau mit seiner Vorstellung von natürlicher Entwicklung einerseits das entwicklungspsychologische Verständnis für das Kind ausserordentlich gefördert, dass er aber andererseits damit den Zugang zum Kind mit Abweichungen von der Entwicklungsnorm eher verbaut hat.“ (Haeberlin 2005, 128)
Lassen wir Rousseau selbst zu Wort kommen:
„Dieser vorher abgeschlossene Vertrag setzt eine glückliche Entbindung, ein wohlgebildetes, starkes und gesundes Kind voraus. Ein Vater hat keine Wahl und darf kein Kind bevorzugen; sie sind alle auf gleiche Weise seine Kinder, er schuldet ihnen allen die gleiche Fürsorge und die gleiche Zuneigung. Ob Krüppel oder nicht, kränklich oder stark, jedes ist sein Gut, über das er dem Rechenschaft ablegen muß, der es ihm schenkte […]
Wer eine Pflicht übernimmt, die ihm die Natur nicht aufzwingt, muß sich zuvor der Mittel versichern, sie zu erfüllen. Andernfalls ist er sogar dafür verantwortlich, was er nicht leisten konnte. Wer sich mit einem kränklichen und schwächlichen Zögling belastet, macht sich zum Krankenpfleger statt zum Erzieher […]
Ich würde mich nicht mit einem kränklichen und siechen Kind belasten, und wenn es achtzig Jahre alt würde. Ich mag keinen Zögling, der sich selbst und anderen unnütz ist, der allein damit beschäftigt ist, sich am Leben zu erhalten, und dessen Leib der Erziehung der Seele schadet. Verschwende ich meine Fürsorge an ihn, so verdopple ich den Verlust, indem ich der Gesellschaft zwei statt nur einen Menschen entziehe. Mag ein anderer sich dieses Krüppels annehmen. Ich bin einverstanden und lobe seine Nächstenliebe; hier aber liegt nicht meine Stärke. Ich kann nicht jemanden leben lehren, der nur daran denkt, wie er dem Tode entgeht.“ (Rousseau 1762/1995, 28)
Am Beispiel Rousseaus werden Widersprüche und Ambivalenzen einer Pädagogik der Aufklärung deutlich, wie sie auch in der deutschen Aufklärung durch die Proklamierung des Prinzips der Perfektibilität ( Moser 1995, 47) zu finden sind. Die philanthropische Bewegung in Deutschland verkündete zwar das Streben nach individueller Vollkommenheit und Glückseligkeit, aber zugleich auch das nach gesellschaftlicher Brauchbarkeit und Nützlichkeit. Damit waren Widersprüche gegeben „zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Anpassung und Mündigkeit, zwischen dem Utilitarismus […] und der Bildung der Individuen zur Humanität“ ( Tenorth 2008, 76), aber auch – so möchte ich im Hinblick auf Behinderung hinzufügen – zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen sowie zwischen Differenz und Verschiedenartigkeit auf der einen und Normierung und Ausgrenzung auf der anderen Seite.
Pädagogik der Armut
Diese Widersprüchlichkeit zwischen zweckfreier Allgemeinbildung und gesellschaftlicher Brauchbarkeit spitzt sich zu, wenn Strategien einer Pädagogik der Armut in den Blick genommen werden. Der mutige Landreformer Fritz Eberhardt von Rochow (1734–1805) proklamierte zwar, „daß Bildung als allgemeines ‚Menschenrecht auch dem Geringsten und Ärmsten‘ zustehe“ ( Wehler 1989, 287; Schmitt 2003), aber er scheiterte mit seinen Plänen. Das Schulwesen am Ende des 18. Jahrhunderts war in Deutschland nach wie vor ein Abbild der ständischen Gesellschaft, in der jedem von Geburt her sein Platz zugewiesen war. Auch die Industrieschule kann als eine „Institution der Pädagogik der Armut“ klassifiziert werden ( Leschinsky/ Roeder 1976), denn ihr primäres Ziel war die Erziehung zu Tugenden wie Fleiß und Sparsamkeit im Rahmen der vorfindlichen Gesellschaftsordnung, die dem Phänomen der Armut vorrangig mit Überwachung und Strafe begegnete ( Foucault 1961; 1976; Herrmann 1981; Moser 1995). Herwig Blankertz urteilte über den Philanthropismus:
„[…] im Programm der allgemeinen Menschenbildung drückte Rousseau den revolutionären Anspruch der Aufklärung pädagogisch aus. Die deutschen Philanthropen faßten das Problem sehr viel enger. In ihrer Theorie der utilitären Erziehung rechtfertigten sie das, was die Praxis des merkantilistischen Staates war, nämlich den einzelnen Menschen dem gesellschaftlichen Anspruch preiszugeben, durch die Aufgabe, an dem ihm angewiesenen Orte zu funktionieren.“ (Blankertz 1982, 81f)
allgemeines Menschen- und Bildungsrecht
Und dennoch, so möchte ich abschließend unterstreichen, waren mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Ideen der allgemeinen Menschen- und Bildungsrechte in die Welt gekommen, die fortan ihre Wirksamkeit entfalteten. Der nicht mehr hintergehbare Anspruch einer Bildung für alle war die Voraussetzung dafür, dass auch für behinderte, benachteiligte und arme Kinder das Recht auf Bildung und Erziehung eingefordert werden konnte – ein Recht, das bis auf den heutigen Tag keine Selbstverständlichkeit ist.
2.2 Die ersten Institutionen
Institutionalisierung
Damit Ideen gesellschaftliche Wirksamkeit und Nachhaltigkeit erlangen können, bedarf es des Handelns von Personen, die bahnbrechende Ideen in gesellschaftliche Praxis umsetzen. Im Falle der Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen waren es einzelne Pioniere, die durch Gründung von Institutionen der bereits im Einzelfall bewiesenen Bildungsfähigkeit gehörloser und blinder, etwas später auch geistig behinderter Menschen, zur gesellschaftlichen Anerkennung verhalfen. Ob in Paris, Leipzig und Wien, wenig später auch in Berlin – stets waren es außergewöhnliche Persönlichkeiten, die zum entscheidenden Motor für die institutionelle Entwicklung eines besonderen Zweiges im Bildungswesen wurden. Ob diesen mutigen Schritten Einzelner aber Erfolg und eine langfristige Wirkung beschieden war, hing von den spezifisch politisch-gesellschaftlichen Umständen ab. Daher sind stets gesellschaftliche Antriebskräfte und Widerstände mit zu bedenken, wenn es um eine Darstellung der Erfolgsgeschichte der ersten Institutionen für die Bildung und Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher geht.
Paris
2.2.1 Die Taubstummenanstalt
Die Gründung der Pariser Taubstummenanstalt ist unaufhebbar verknüpft mit dem Wirken des Priesters Charles Michel de l’Epée (1712–1789), der nicht nur eine Methode des Taubstummenunterrichts wissenschaftlich begründete, sondern mit dem Beginn eines privaten Unterrichts taubstummer Schülerinnen den Grundstein für die Entwicklung eines Bildungswesens für Menschen mit Taubheit legte.
Abbé de l’Epée
De l’Epée, Sohn eines Architekten in Versailles, Jansenist2 und wegen freisinniger Ansichten aus dem Priesteramt entlassen, war zu seiner Zeit keineswegs der Einzige, der taubstumme Personen unterrichtete – erinnert sei nur an seinen Gegenspieler Jacob Rodriguez Pereira (1715–1780), ein Verfechter der Lautsprache –, aber er verstand es, durch seine jahrelangen, auch international wirksamen Aktivitäten die Basis für die Etablierung einer öffentlich anerkannten Gehörlosenbildung zu legen.
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