1 ...8 9 10 12 13 14 ...24 Der immer wieder in der Literatur erwähnte Auslöser für den Unterricht Gehörloser war de l’Epées etwa im Jahre 1760 erfolgte Begegnung mit zwei taubstummen Mädchen, die bereits von einem anderen Priester unterrichtet worden waren. Das erste Kapitel seines 1776 veröffentlichten Werkes „Institution des sourds et muets par la voie des signes méthodiques“ gibt Auskunft über die religiösen Motive de l’Epées, spiegelt die ungeheure Aufbruchstimmung und Begeisterung wider und berichtet schließlich von den öffentlich zur Schau gestellten Unterrichtserfolgen:
„Kommen seit etwa dreißig Jahren mehr taubstumme Kinder zur Welt als vorher? Die Stadt Paris beherbergt eine große Anzahl von ihnen, man meldet sie uns von allen Seiten aus den Provinzen, und wir wissen, daß sich in den uns umgebenden Reichen ebensoviele finden. Ohne die Ratschlüsse der göttlichen Vorsehung durchdringen […] zu wollen […] glaube ich, daß dieses Gebrechen immer in fast gleichem Verhältnis zu allen unsern Leiden gefunden worden ist. Wenn es trotzdem scheint, daß es heute mehr Taubstumme gibt als in früheren Zeiten, so kommt das daher, daß man bis auf unsere Tage die Kinder, die ohne die Fähigkeit zu hören und zu sprechen geboren wurden, von der menschlichen Gesellschaft fern hielt, weil ihr Unterricht immer als sehr schwer, in mancher Hinsicht sogar als unmöglich angesehen wurde. Die Gelehrten wußten indessen sehr wohl, daß seit zwei Jahrhunderten einige Phänomene dieser Art […] mehr oder weniger unterrichtete Taubstumme, aufgetreten waren, was man alsdann als eine Art Wunder ansah; aber die übrigen Menschen kamen gar nicht auf den Gedanken, daß man jemals dieses Werk versucht hatte, und noch weniger ahnten sie, daß es jemandem gelungen war.
Die Taubstummheit stellte sich also den Augen als ein entsetzlicher Zustand dar und schien nach der Ordnung der Natur ein unheilbares Übel zu sein. Wir wissen sogar durch einwandfreie Berichte, daß es noch jetzt barbarische Länder gibt, in denen man die Kinder, die weder hören noch sprechen können, tötet, weil man sie als Ungeheuer ansieht […]
Heute haben sich die Dinge geändert. Man hat mehrere Taubstumme sich in der Öffentlichkeit zeigen sehen. Die Prüfungen, die sie zu bestehen hatten, sind durch Programme angekündigt worden, welche die Aufmerksamkeit des Publikums erregt haben. Personen jeden Standes und jeden Ranges haben sich in Menge dazu eingefunden. Die Schüler sind umarmt worden, man hat ihnen Beifall gezollt, sie mit Lob überhäuft, sie mit Lorbeeren gekrönt. Die Kinder, die man bis dahin als Auswurf der Natur angesehen hatte, haben sich mehr ausgezeichnet und ihren Vätern und Müttern mehr Ehre gemacht als deren andere Kinder, die nicht imstande waren, gleiches zu leisten, und die darob erröteten […]
Da die inländischen und fremden Zeitungen über das berichtet, was sich in Paris unter den Augen einer beträchtlichen Anzahl von vornehmen Zeugen zugetragen hat, sind die gewöhnlichen Unterrichtsstunden der Taubstummen sozusagen fortwährende Prüfungen geworden. Man sieht dort alle Tage Gelehrte verschiedener Länder und Personen höchsten Standes. Sogar einige unserer Fürsten haben sie mit ihrer Anwesenheit beehrt, und fremde Herrscher haben sich selbst davon überzeugen wollen, daß die öffentlichen Zeitungen sie nicht durch falsche Berichte getäuscht hatten.
Es ist also gar nicht mehr die Rede davon, die Taubstummen gänzlich von der Welt abzuschließen […] Die Taubheit, die man allein für das Los der Menschen erhielt, die, sich durch eine kleine Glocke bemerkbar machend, ihr Brot in den Straßen erbetteln, erscheint jetzt nur noch als eine jener körperlichen Häßlichkeiten, von denen auch die höchsten Stände nicht ausgenommen sind, und deren Nachteilen leicht abzuhelfen ist […]
Ich bin Lehrer der Taubstummen geworden, ohne daß ich damals wußte, daß es jemals andere vor mir gegeben hatte […] Der P. Vanin, ein sehr achtbarer Priester der Kongregation der Christlichen Lehre, hatte vermittelst Bilder (einem an sich sehr schwachen und ungewissen Hilfsmittel) den Unterricht von zwei taubstumm geborenen Zwillingsschwestern begonnen. Als dieser barmherzige Geistliche gestorben war, blieben die beiden armen Mädchen ohne alle Hilfe […] Da ich nun fürchtete, daß diese beiden Kinder ohne Kenntnis ihrer Religion leben und sterben würden, wenn ich nicht irgend ein Mittel versuchte, sie zu unterrichten, wurde ich von Mitleid für sie gerührt und ließ sie mir bringen, um mein möglichstes an ihnen zu tun.“ (de l’Epée 1910, 1ff)
Protagonist der Aufklärung
De l’Epées ungeheurer pädagogischer Optimismus, gepaart mit religiösen Motiven, galt in erster Linie nicht den Kindern aus besseren Kreisen, sondern jenen aus den unteren Volksschichten, die bislang von allen besonderen Bildungsbemühungen ausgeschlossen waren. Durch diese Betonung des sozialpolitischen Aspektes seiner Aktivitäten, durch die Forderung nach gleichen Menschen- und Bildungsrechten auch für die Vernachlässigten, erwies sich de l’Epée als ein wahrer Protagonist der Aufklärung:
„Die Taubheit ist ein Elend, dem Personen jeden Standes und jeden Berufes verfallen sind. Wir haben unter unsern Schülern vornehme und reiche, aber auch arme und solche aus der Hefe des Volkes. Daß wir den ersteren alle Arten von Kenntnissen geben, die sie verstehen können, damit wird man wohl ohne Zweifel einverstanden sein. Nun wohl, so muß man, was man auch dazu sagen möge, dulden, daß die anderen sie in Gesellschaft miterwerben können. Das ist um so gerechter, als die Reichen nur bei mir geduldet werden. Nicht ihnen, sondern den Armen habe ich mich gewidmet. Ohne diese würde ich niemals den Unterricht der Taubstummen übernommen haben. Die Reichen haben die Mittel, einen Lehrer für ihre Kinder zu suchen und zu bezahlen.“ (de l’Epée 1910, 90)
erste Unterrichts- versuche
De l’Epée begann seine ersten Unterrichtsversuche in seinem Privathaus in der Rue des Moulins und bestritt sie, unterstützt von seinem Bruder, bis zu seinem Tod 1789 weitgehend aus seinen privaten Geldmitteln. Aus seinen Aufzeichnungen von 1776 geht allerdings auch hervor, dass der Gründer der privaten Taubstummenanstalt von Paris schon sehr bald deren Umwandlung in eine öffentliche Unterrichtsanstalt im Auge hatte, da nach seiner Ansicht nur besondere „Erziehungshäuser“ den spezifischen Bildungsauftrag sichern könnten. So schreibt er:
„Die Welt wird niemals lernen, ihre Finger und Augen in größter Eile arbeiten zu lassen, nur um das Vergnügen zu haben, sich mit den Taubstummen unterhalten zu können. Das einzige Mittel, diese der menschlichen Gesellschaft völlig wiederzugeben, ist, sie zu lehren, mit den Augen zu hören und sich mündlich auszudrücken. Bei vielen unserer Schüler gelingt uns das, obgleich sie nicht bei uns wohnen, sondern nur zweimal wöchentlich in unsere Unterrichtsstunden kommen […] Diese Fähigkeit sollte man ausbilden, und man würde unfehlbar zu etwas Vollkommenem gelangen, wenn man Erziehungshäuser hätte, die ganz diesem Werke geweiht wären. Es scheint jetzt, daß das erste in Deutschland durch den Herzog von Sachsen/Weimar gegründet werden wird. Als dieser junge Fürst einer unserer Unterrichtsstunden beigewohnt hatte, hat er sogleich den Plan einer solchen Anstalt gefaßt […]“ (de l’Epée 1910, 76f)
Streben nach Verstaatlichung
Michel de l’Epée unternahm mehrere Anläufe, um für seine private Schule den Status einer öffentlichen Schule zu erlangen. Wiederholte Eingaben an den König sowie eine unermüdliche Zurschaustellung erzielter Unterrichtserfolge waren die Mittel, um die prekäre finanzielle Situation, wenn nicht zu überwinden, so doch zumindest zu mildern. Ungeachtet des Wohlwollens des französischen Königs sowie anderer privater Förderer erfüllte sich der Wunsch nach staatlicher Übernahme lange Zeit jedoch nicht.
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