Wien
2.2.3 Das Taubstummen-Institut
Kaiser Joseph II.
Das Urteil Paul Schumanns, dass die Wirkung Michel de l’Epées nicht auf Frankreich begrenzt sei, sondern „alle Kulturnationen“ von ihm lernten (1940, 131f), trifft in ganz besonderem Maße für die Gründung der Wiener Taubstummenanstalt zu. Ihr Initiator und Förderer, der aufgeklärte Monarch Joseph II., Bruder der französischen Königin Marie Antoinette und damit Schwager Ludwig des XVI., hatte anlässlich seines Besuchs in Paris 1777 nicht nur von der Taubstummenschule de l’Epées erfahren, sondern diese auch selbst besucht (Schumann 1940, 196; Schott 1995, 54f).
Friedrich Stork Joseph May
Nach Wien zurückgekehrt, beauftragte Joseph II. Kardinal Migazzi mit der Benennung eines geeigneten Leiters für die zu gründende Anstalt. Dieser entschied sich für den Priester Friedrich Stork (1746–1823), dem er als Gehilfen den Lehrer Joseph May an die Seite stellte. Das von Kaiser Joseph II. 1779 eingerichtete k. k. Taubstummen-Institut, das zunächst für nur zwölf Zöglinge vorgesehen war, fiel – und hier sehen wir den Unterschied zu Frankreich – in die Zuständigkeit der für die Unterrichtsangelegenheiten in der Monarchie zuständigen Studienhofkommission. Die Finanzierung des Instituts teilten sich zwei Institutionen: für die Besoldung zeichnete die Hofkammer verantwortlich, während für den Unterrichtsraum die „Milde Stiftungs-Hof-Kommission“ aufkam. Die Kosten für den Unterricht der kaiserlich-königlichen Zöglinge wurden ebenfalls durch diese Behörde getragen.
staatliche Verantwortung
Die Anfänge der Institutionalisierung in Wien verdeutlichen, wie groß die Unterschiede zu Paris waren. Hier in Wien war es keine Privatperson, die die Initiative ergriff und stets um die finanzielle Absicherung der Einrichtung kämpfen musste, sondern die Spitze des Staates, die das Vorhaben ideell und auch materiell in ausreichender Weise unterstützte:
„Somit waren Stork und May die ersten staatlich angestellten Gehörlosenlehrer und das k. k. Taubstummen-Institut die erste staatliche Gehörlosenanstalt. Das Jahresgehalt von 800 fl (Gulden) für Stork entsprach der damaligen Norm für den etwas angehobenen Staatsdienst. Der ‚kaiserliche Compositeur‘ Wolfgang Amadeus Mozart erhielt bekanntlich ein ebenso hohes Jahresgehalt.“ (Schott 1995, 60)
Charakteristisch für die Wiener Gründung war auch, dass sie keineswegs nur auf den Großraum Wien beschränkt bleiben sollte. Sogenannte „Circulare“ wurden in allen Ämtern der Kronländer bekannt gegeben, um auf die neu errichtete Anstalt für Taubstumme in Wien aufmerksam zu machen. Schon bald war die Kapazität der zwölf Plätze überschritten.
Bereits im November 1779 erstattete Stork der Studienhofkommission einen Bericht über die von ihm „unterrichteten Tauben und Stummen“, in dem die folgenden Zöglinge mit den Angaben ihrer sozialen Herkunft und der Einschätzung ihrer Fähigkeiten aufgeführt sind (s. Tab. 2.1).
Tab 2.1: Storks Bericht an die Studienhofkommission8
„Allerunterthänigster Bericht Johann Friedrichs Stork des erzbischöflichen Kur Priester Über die von Ihm im Monathe November 1779 unterwiesenen Taubstummen |
Namen der Taubstummen |
Fähigkeiten und Fleiß |
Josepha Fräulein von Gudenus alt 25 Jahr |
Sehr gut |
Christoph Wachterk. k. Thürhüters Sohn, alt 19 Jahr |
Sehr guter thut sich unter allen Schülern am meisten hervor |
Veit Kreilitzk. k. Zögling, alt 38 Jahr |
Gut,er könnte aber seiner Fähigkeit nach fleißiger seyn |
Joseph Okowalskyk. k. Trabantens Sohn, alt 21 Jahr |
Sehr gut |
Bartholomäus Kramerin der Versorgung im Bürgerspitale, alt 24 Jahr |
Sehr gut |
Franz HeinrichTagwerkers Sohn, alt 13 Jahr, sehr arm |
Sehr gut |
Johann KramerBürgerl. Wollzeugmachers Sohn, alt 9 Jahr |
Sehr gut |
Franz ReithSchustermeisters Sohn, alt 9 Jahr |
Gut |
Anna FegerlSchneiders Wittib Tochter, alt 22 Jahr |
Gut besonders im Schreiben |
Aloysia Okowalskyeine Schwester des vorigen, alt 11 Jahr |
Sehr gut |
Theresia Fräulein von PrinaSchwester der Frau Hofrätin von Braun, alt 32 Jahr |
Gut auf ihre schwach Gedächtniß |
Aloysius WeinerTagswerkers Sohn, alt 10 Jahr |
Mittelmäßig |
Peter MollBedientens Wittib Sohn, alt 12 Jahr |
Sehr nachläßig in Schulgehen |
Thekla N.Ein Findling, alt bey 20 Jahr |
Etwas blöd, aber emsig |
Anton LinzMüllerknechts Sohn, alt 13 Jahr |
Etwas dumm |
Maria Anna Pöschl, alt 19 JahrUndMaria Anna Hörner, alt 17 Jahrbeyde k. k. ZöglingeSumma 17 |
GutFür den Anfang sehr gut |
J. Friedrich Storkk. k. Lehrer der Tauben und Stummen“ |
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öffentliche Prüfung
Nach Verlautbarung der „Wiener Zeitung“ vom 22. Dezember 1779 fand die erste genehmigte und öffentliche Prüfung der Zöglinge im Beisein „hochgestellter Persönlichkeiten“ der Wiener Gesellschaft statt. Stork hatte sogenannte „Prüfungszettel“ vorbereiten und drucken lassen, die den Lehrstoff der Prüfung enthielten und die jedem Besucher überreicht wurden.
Sowohl Stork als auch May kannten den Unterricht de l’Epées aus eigener Anschauung. Joseph May war mehrere Jahre als Deutschlehrer an der Pariser Militärakademie tätig gewesen und hospitierte nach seiner Nominierung für das Taubstummeninstitut in Wien gemeinsam mit Stork acht Monate lang in der Taubstummenanstalt de l’Epées. Aufgrund der engen Verbindung zu Frankreich war es nur naheliegend, dass die Wiener Anstalt die Methode de l’Epées übernahm – allerdings mit der Ausnahme, dass Lehrer May bereits frühzeitig mit einem Artikulationsunterricht begann. Diese Bemühungen und ihre offenbar günstigen Resultate wurden anlässlich einer weiteren öffentlichen Vorführung im Jahre 1780 dem erstaunten und begeisterten Publikum präsentiert. Die Reaktion des Kaisers bestand darin, May eine Gehaltserhöhung von 100 fl Gulden zu gewähren.
Mit dem Dekret vom 8. September 1784 legte Joseph II. fest, dass die Zahl der Zöglinge auf 30 zu erhöhen sei, allerdings mit dem Zusatz, dass diese bei Schülern mit besonderen Fähigkeiten auch überschritten werden dürfe. Schon nach kurzer Zeit befanden sich 31 männliche und 16 weibliche Zöglinge im Taubstummeninstitut von Wien.
Johann Strommer
Allerdings kam es schon bald zu Konflikten zwischen Stork und May, die vor allem auf unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich des Unterrichts Gehörloser beruhten. Die Kritik an der Unterrichtsmethode Storks verschärfte sich, als 1783 ein dritter Lehrer, Johann Strommer, eingestellt wurde. May und Strommer hatten der Studienhofkommission berichtet, dass Stork das ganze Jahr über nur die Fragen und Antworten unterrichtete, die er für die öffentlichen Prüfungen bestimmte. Die Schüler wüssten bereits vor der Prüfung die Antworten auswendig, und auf diese Weise würde Stork das Publikum täuschen.
Entlassung Storks und Methodenwechsel
Die Kritik an Stork zielte zugleich auf die Methode seines Vorbildes de l’Epée, dessen Verfahren nun grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Der Methode de l’Epées wurde der Vorwurf gemacht, dass sie weder das Sprachverständnis Gehörloser befördere noch die gesellschaftliche Kommunikation und damit die gesellschaftliche Eingliederung der Betroffenen bewirke. Am 28. September 1792 wurde Direktor Stork von seinem Amt entfernt und an seine Stelle der Lehrer Joseph May berufen;9 damit war zugleich ein Wechsel in der Methode des Unterrichts zugunsten einer stärkeren Beachtung der Lautsprache entschieden.
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