Die Hellenisten als Bindeglied zwischen Jerusalem und der weiteren Entwicklung
Die Bedeutung der Hellenisten für die weitere Entwicklung des frühen Christentums kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bereits die Rückkehr aus der Diaspora nach Jerusalem zeigt, dass die Hellenisten sehr religiöse Menschen waren, die sich nun dem Christusglauben anschlossen und ihn dann wieder über Jerusalem hinaus (in die Diaspora) trugen. Obwohl auch die Hellenisten nicht einfach als eine geschlossene Gruppe anzusehen sind 147, entwickelten sie bereits in Jerusalem und dann später in Damaskus (vgl. Apg 9,2) und in Antiochia (vgl. Apg 11,19) eigene theologische und christologische Ansätze und Vorstellungen mit einer universalen Tendenz, die dann die Bewegung der Christusgläubigen für eine Mission über die Grenzen Palästinas hinweg öffneten (s.u. 6.2). Sie waren wahrscheinlich die Ersten, die spontane Gaben des Heiligen Geistes auch an Nichtjuden (vgl. Apg 2,9–11; 8,17.39) theologisch bedachten. Das gesamte paulinische Missionswerk ist ohne das Wirken dieser Gruppe nicht denkbar. Die Hellenisten waren es vermutlich auch, die schon früh die Jesusüberlieferung ins Griechische übertrugen und damit die Jesusbotschaft für die griechische Welt öffneten.
5.6 Texte: Die Passionsgeschichte
MEINRAD LIMBECK (Hg.), Redaktion und Theologie des Passionsberichtes nach den Synoptikern, WdF 481, Darmstadt 1981. – KARL KERTELGE (Hg.), Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage und theologische Deutung, QD 112, Freiburg 1988. – WILLIBALD BÖSEN, Der letzte Tag des Jesus von Nazaret. Was wirklich geschah, Freiburg 1994. – CHRISTOPH NIEMAND, Jesus und sein Weg zum Kreuz. Ein historisch-rekonstruktives und theologisches Modellbild, Stuttgart 2007. – MARLIS GIELEN, Die Passionserzählung in den vier Evangelien. Literarische Gestaltung – theologische Schwerpunkte, Stuttgart 2008.
Die erfolgreiche Verkündigung der Jerusalemer Gemeinde ist nur denkbar, wenn überzeugende Verkündigungsinhalte existierten. Hier ist zuallererst an die mündliche Predigt zu denken, die in besonderer Weise Jesu Geschick im Lichte der alttestamentlichen Verheißungen zum Inhalt gehabt haben dürfte. Eine ausschließlich mündlich vor- und weitergetragene Überlieferung ist für eine kurze Zeit nach Jesu Tod denkbar, aber schon ein oder zwei Jahre später erforderten die Gottesdienste in den Hausgemeinden sowie die Tauf- und Herrenmahlsfeiern eine gewisse Fixierung der Überlieferung und d.h. ihre sukzessive Verschriftlichung. Für die Jerusalemer Gemeinde dürfte dabei das im Vordergrund gestanden haben, was sich auch in Jerusalem ereignete: die Passion.
Die Passion als Grunderzählung
Zu den Grunderzählungen der neuen Bewegung der Christusgläubigen in Jerusalem gehörte deshalb sicherlich von Anfang an ein Passionsbericht. Paulus bestätigt dies indirekt, wenn er seine Herrenmahlsüberlieferung mit der Bemerkung einleitet: „Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch weitergegeben habe: Der Herr Jesus, in der Nacht, als er verraten wurde …“ (1Kor 11,23). Der von Markus überlieferte Bericht stellt nicht nur literarisch, sondern wahrscheinlich auch traditionsgeschichtlich die älteste Version dar. Sie existierte bereits lange vor dem Markusevangelium, worauf vor allem die unterschiedliche Chronologie zwischen dem vormk. Bericht (Jesus stirbt am Rüsttag zum Passa) und dem vorliegenden Evangelium (Jesus stirbt am Passa) hinweist 148.
Alle vier Evangelien stimmen darin überein, dass Jesus an einem Freitag gekreuzigt wurde (Mk 15,42; Mt 27,62; Lk 23,54; Joh 19,14.31.42). Nach den Synoptikern ist dieser Freitag der erste Tag des Passafestes, der 15. Nisan (vgl. Mk 14,12par). Bei Johannes stirbt Jesus am Rüsttag des Passa, dem 14. Nisan am Nachmittag (vgl. Joh 18,28; 19,14.31) 149, genau zu dem Zeitpunkt, als die Passalämmer auf dem Tempelplatz geschlachtet wurden 150. Auch die mk. Tradition stützt die joh. Überlieferung, denn nach Mk 14,1f sollte Jesus vor dem Fest (V. 2: „nicht am Fest“) inhaftiert und getötet werden und Judas sollte Jesus „rechtzeitig“ (
) übergeben, d.h. die Gefangennahme Jesu erfolgte in der Nacht vom 13. zum 14. Nisan 151. Alle Textsignale, die die Schnelligkeit des Geschehens betonen (Mk 14,30: „heute, in dieser Nacht“; 15,1: „und sofort, in der Frühe“; 15,34: für einen Gekreuzigten stirbt Jesus sehr schnell, bereits in der „neunten Stunde“, d.h. nach 6 Stunden; 15,44: Pilatus ist erstaunt, dass Jesus schon gestorben ist), verweisen ebenfalls auf den Rüsttag. Für diese Datierung spricht ferner die Notiz in Mk 15,20f, Simon von Kyrene sei vom Acker gekommen und habe das Kreuz Jesu tragen müssen. Am Passa ruhte alle Arbeit, so dass auch hier an den Rüsttag zum Passa zu denken ist, was bei Streichung des Zusatzes
(„der ist vor dem Sabbat“) auch in Mk 15,42 vorausgesetzt wird. Die Gerichtsverhandlungen vor dem Synedrium und Pilatus sind ebenfalls nicht an einem Sabbat denkbar.
Die Passionsgeschichte als Jerusalemer Kultätiologie
Zur ältesten Passionsüberlieferung dürften folgende Texteinheiten gehört haben: Mk 14,1– 2 (Todesbeschluss); 14,10–11 (Judas); 14,22–25 (letztes Mahl); 14,43–46 (Festnahme); 14,53–65 (Verhör vor dem Hohen Rat); 14,66–72 (Verleugnung des Petrus); 15,1– 5 (Jesus vor Pilatus); 15,16–20a (Verspottung); 15,20b–27 (Kreuzigung); 15,42– 47 (Grablegung). Als spätere Ergänzungen können angesehen werden: Mk 14,3–9 (Salbung in Betanien); 14,12–17 (Vorbereitung zum Mahl); 14,18–21 (der Verräter); 14,26–31 (Ankündigung der Verleugnung des Petrus);14,32–42 (Gethsemane); 14,47– 52 (Ereignisse bei der Festnahme); 15,6–15 (Jesus vor Pilatus II); 15,29–41 (Geschehnisse um die Kreuzigung). Vermutlich wurden die ältesten Einzeltraditionen schon relativ früh mit den etwas späteren Überlieferungen zu einem vormk. Passionsbericht zusammengeführt und dann noch einmal von Markus überarbeitet und in sein Evangelium integriert. Der älteste Grundbestand des Passionsberichtes wird am Ort seines Geschehens, in Jerusalem, entstanden und zwischen 35 und 40 n.Chr. verschriftlicht und auch ins Griechische übersetzt worden sein 152. Dies ergibt sich einmal aus den Erfordernissen in der Jerusalemer Gemeinde, denn mit fortschreitender Zeit mussten die Überlieferungen gesichert und fixiert werden sowie in den beiden Hauptsprachen Aramäisch und Griechisch zugänglich sein. Ferner existierten um 40 n.Chr. andere große Gemeinden (Damaskus, Antiochia) bzw. bildeten sich neue (Rom), in denen mit Sicherheit auch von Jesu Geschick in Jerusalem erzählt wurde, d.h. sie waren auf eine verschriftete (griechische) Form des Passionsberichtes angewiesen. Es ist anzunehmen, dass im Gottesdienst und speziell bei Herrenmahlsfeiern üblicherweise die Passionsgeschichte oder Teile aus ihr verlesen wurden. Mit der Passiongeschichte gab sich die Jerusalemer Gemeinde eine Kultätiologie, d.h. eine erzählende Begründung für ihre Existenz und ihre kultische Praxis.
5.7 Die theologische Entwicklung der frühen Jerusalemer Gemeinde
In der Jerusalemer Gemeinde wurden sicherlich über die Passionsgeschichte hinaus weitere Texte der Jesusüberlieferung mündlich oder schriftlich fixiert, ohne dass dieser Prozess im Einzelnen nachzuzeichnen wäre. Wohl aber lässt sich zeigen, welche theologischen Grundanschauungen in der Jerusalemer Gemeinde entstanden, die dann für die spätere Entwicklung von großer Bedeutung waren.
Christologische Hoheitstitel
Die Verehrung Jesu neben Gott bildete sich aus den überwältigenden religiösen Erfahrungen der Christengläubigen in Jerusalem, wobei insbesondere die Erscheinungen des Auferstandenen, das gegenwärtige Wirken des Geistes und intensive Gottesdiensterfahrungen zu nennen sind (s.o. 4.1/4.2). Neben die gottesdienstliche Anrufung und rituelle Verehrung Jesu traten die christologischen Hoheitstitel, die zu den frühesten Elementen der theologischen Reflexion zählten. Sie sind Abbreviaturen des gesamten Heilsgeschehens; sie sagen aus, wer und was Jesus von Nazareth für die glaubende Gemeinde ist 153.
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