Eine neue Kultur des Teilens
Lukas nahm einzelne Fälle von freiwilligem Besitzverzicht bzw. einer gemeinsamen Besitznutzung in der Jerusalemer Gemeinde zum Ausgangspunkt seiner Darstellung und verband sie mit dem gemeinantiken Ideal des
. So erschuf er Ur-Szenen und gab den Ereignissen eine paradigmatische Aura. Zudem dürften ihn der radikale Lebensstil des irdischen Jesus und seines Jüngerkreises, aber auch des Paulus und seiner engsten Mitarbeiter dazu inspiriert haben. Darüber hinaus sieht er in der Gemeinde die Verwirklichung der in der antiken Philosophie häufig anzutreffenden Sozialutopie des idealen Gemeinwesens. Mit seinem Bild der Gemeinde verdeutlicht Lukas schließlich, dass mit der neuen Gemeinschaft der Christusgläubigen auch eine neue Kultur des Teilens verbunden war, was in Einzelfällen wahrscheinlich auch zutraf. Zugleich schuf Lukas mit dieser sozialen Utopie einen durch die Zeiten hindurch wirkenden Anstoß, der unmissverständlich fordert, wie die Jerusalemer zu geben, zu teilen und alles gemeinsam zu haben 126.
Hebräer und Hellenisten
MARTIN HENGEL, Zwischen Jesus und Paulus, ZThK 72 (1975), 151–206. − NIKOLAUS WALTER, Apostelgeschichte 6,1 und die Anfänge der Urgemeinde in Jerusalem, in: ders., Praeparatio Evangelica, WUNT 98, Tübingen 1997, 187–211 (= 1983). – HEIKKI RÄISÄNEN, The „Hellenists“ – A Bridge between Jesus and Paul?, in: ders., The Torah and Christ, SESJ 45, Helsinki 1986, 242–301. – CRAIG C. HILL, Hellenists and Hebrews: Reappraising Division within the Earliest Church, Minneapolis 1992. − GERD THEISSEN, Hellenisten und Hebräer (Apg 6,1–6). Gab es eine Spaltung in der Urgemeinde?, in: Hermann Lichtenberger (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel), Bd. III, Tübingen 1996, 323–343. – MICHAEL ZUGMANN, „Hellenisten“ in der Apostelgeschichte, WUNT 2.264, Tübingen 2009. − JAMES D.G. DUNN, Beginning from Jerusalem, 241–278.
Mit Kap. 6ändert sich die Erzählperspektive der Apostelgeschichte; das in Apg 1–5 vorherrschende Bild vom harmonischen Leben der Jerusalemer Gemeinde bekommt Risse. Bisher wuchs die Gemeinde in außerordentlicher Weise (vgl. Apg 2,41; 4,4, 5,14); sie genießt Hochachtung beim Volk (Apg 5,13b), alle sind ein ‚Herz‘ und eine ‚Seele‘ (Apg 2,44; 2,34) und haben alles gemeinsam (Apg 2,44ff; 4,32), so dass niemand Not leiden muss (Apg 4,34). Nun dominiert eine andere Wirklichkeit; die Hochachtung des Volkes gegenüber der Gemeinde ist heftigen Auseinandersetzungen und Verfolgungen gewichen, die im Martyrium des Stephanus ihren Höhepunkt finden (vgl. Apg 6,11–14; 7,57–58). Es kommt zu Ausschreitungen gegen die neue Bewegung, die viele zur Flucht aus Jerusalem veranlassen (Apg 8,1) und sogar unter den Christusgläubigen entsteht ein Streit zwischen den Gruppen der ‚Hellenisten‘ und ‚Hebräer‘. Von der in Apg 2,44– 47 und 4,32–37 erwähnten Gütergemeinschaft ist in Kapitel 6nicht mehr die Rede. Auch wenn die große erzählerische Linienführung auf Lukas zurückgeht, sind hinter Apg 6,1–8,3 deutlich historische Konflikte innerhalb der Jerusalemer Gemeinde und zwischen Teilen der Gemeinde und dem Jerusalemer Judentum zu erkennen 127.
Die ‚Zwölf‘ und die ‚Sieben‘
In Apg 6,1–7 lässt Lukas zwei Leitungsgremien auftreten: den Zwölfer- und Siebenerkreis. Die ‚Zwölf‘ erscheinen nur in Apg 6,2 (vgl. Lk 6,13; 9,1; 18,31; 22,3.30), in Apg 6,6 ist schon wieder von ‚den Aposteln‘ die Rede. Beim Zwölferkreis handelt es sich wahrscheinlich um eine von Jesus selbst eingesetzte Gruppe, die symbolisch die Gesamtheit der Zwölf Stämme Israels repräsentierte und die nach Ostern nur noch eine kurze Zeit von Bedeutung war (s.o. 5.2). Auch der Siebenerkreis war im frühen Christentum ein fester Begriff, denn Philippus wird in Apg 21,8 als „einer von den Sieben“ genannt. Die Herkunft der Zahl Sieben könnte mit der Auslegung von Dtn 16,18 zusammenhängen, denn Josephus erwähnt dazu, dass in jeder jüdischen Stadt sieben Männer regieren sollen 128. Die Bildung des Siebenerkreises verbindet Lukas mit einem Konflikt innerhalb der Jerusalemer Gemeinde: „In diesen Tagen aber, da die Zahl der Jünger stark zunahm, gab es ein Murren der Hellenisten gegen die Hebräer, ihre Witwen würden bei der täglichen Almosenverteilung übersehen“ (Apg 6,1). Die Witwen der Hellenisten fühlten sich beim innergemeindlichen Bedarfsausgleich übersehen bzw. benachteiligt, was zu einem Konflikt zwischen den Hellenisten und Hebräern führte. Als Erkärung dient der Hinweis, dass die ‚Zwölf‘ mit der Doppelaufgabe von Diakonie und Verkündigung überlastet waren. Deshalb erfolgt eine erste Erweiterung der Gemeindeorganisation, indem für die Armenvorsorge sieben Männer ausgewählt und durch die Apostel eingesetzt werden. Die Darstellung des Lukas in Apg 6,1–7 enthält eine Reihe von Ungereimtheiten: 1) Es bleibt unklar, ob die Witwen der Hellenisten innerhalb eines – wegen des Wachstums der Gemeinde – neu eingerichteten Systems von Anfang an nicht berücksichtigt wurden oder in einem bestehenden System von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Unterstützung mehr erhielten. 2) Warum wurden nur die hellenistischen Witwen übersehen? Lebten sie bereits abseits in einer eigenen Gemeinde? 3) Alle sieben ‚Diakone‘ trugen hellenistische Namen 129, einer ist sogar Proselyt aus Antiochia. 4) Warum wählte man nur Hellenisten und nicht einen gemischten Kreis zur Durchführung der Armenfürsorge? 5) Besonders auffällig ist, dass im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte Stephanus und Philippus in keiner Weise als Armenpfleger auftreten. Vielmehr handelt es sich bei beiden um geistbegabte frühchristliche Missionare. 6) Ebenso kommen die ‚Zwölf‘ ihrer angekündigten Aufgabe (Apg 6,4: „wir aber wollen beim Gebet und beim Dienst am Wort bleiben“) innerhalb der Erzählung nicht nach; sie entschwinden vielmehr und werden von den Aposteln ersetzt (vgl. Apg 6,6) 130. 7) Ein Zusammenhang mit der zuvor geschilderten Gütergemeinschaft (Apg 4,32–37) wird von Lukas nicht hergestellt, obwohl er auf der Hand liegt: Wenn das Ziel dieses Programms darin lag, dass „keiner unter ihnen Mangel hatte“ (vgl. Apg 4,34), zeigt der Streit über die Witwenversorgung, dass es zumindest in der Realität so nicht funktionierte (oder gänzlich Fiktion war).
Als historisches Faktum kann der lukanischen Darstellung zunächst entnommen werden, dass es in der Jerusalemer Gemeinde schon sehr früh zwei Gruppen gab: Die ‚Hellenisten‘ und die ‚Hebräer‘. Die Begriffe
und
weisen darauf hin, dass der Konflikt zu einem erheblichen Teil sprachliche Ursachen hatte. Die
sind aramäisch sprechende jüdische Jesusanhänger, die
hingegen aus der Diaspora stammende und nach Jerusalem zurückgekehrte griechisch sprechende Juden, die zu Jesusanhängern wurden (vgl. Apg 2,5) 131. Deshalb beherrschten sie das Aramäische nicht oder nur eingeschränkt; umgekehrt gab es bei den ‚Hebräern‘ sicherlich einige, die Griechisch als Fremdsprache beherrschten, zugleich sprach aber die Mehrzahl ausschließlich aramäisch. Weil Sprache ein herausragendes Merkmal von Identität ist, verwundert es nicht, dass es hier zu Konflikten kam. Auch soziale Unterschiede dürften bestanden haben, denn die hellenistischen Juden aus der Diaspora waren in ihrer Mehrheit sicherlich begütert 132, während zumindest die galiläischen Jesusanhänger in Jerusalem auf Unterstützung angewiesen waren. Hinzu kommt, dass die aus der Diaspora zurückgekehrten Juden eine gewisse sprachlich-kulturelle Identität durch landsmannschaftliche Synagogen in Jerusalem beibehielten, worauf neben Apg 6,9 („Synagoge der Libertiner und der Kyrenäer und der Alexandriner“) vor allem die sogenannte Theodotus-Inschrift hinweist 133.
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