Mehrere Zentren
Auch wenn Jerusalem das Zentrum der nachösterlichen Bewegung der Christusgläubigen bildete, war es nicht das einzige 43und vor allem nicht der Ursprung des Christentums als eigenständiger Bewegung. Vermutlich gab es auch in Galiläa von Anfang an Gemeinden der Christusgläubigen (s.u. 6.3/6.4). Bei der Ausbreitung der neuen Bewegung und der Formung ihres Denkens spielten Damaskus und vor allem Antiochia eine weitaus gewichtigere Rolle als Jerusalem (s.u. 6.4). Vieles spricht sogar dafür, dass man in Jerusalem der beschneidungsfreien Mission (vor allem des Paulus) sehr kritisch gegenüberstand und sie zu verhindern bzw. nachträglich zu korrigieren suchte (s.u. 7.6/8.5). Außerdem gründete sich eine so bedeutende Gemeinde wie Rom völlig unabhängig von Jerusalem, was auch von Damaskus, Antiochia und Alexandria vermutet werden darf. Deshalb ist es sachgemäßer, von der Jerusalemer Gemeinde und nicht von der Ur-Gemeinde als der Mutter aller Dinge zu sprechen, wodurch die Sonderstellung der Jerusalemer keineswegs geschmälert wird.
5.1 Die Anfänge
Die Entstehung der Jerusalemer Gemeinde lässt sich in Grundzügen nachzeichnen 44. Der Wirbel um das Auftreten, den Prozess und die Kreuzigung des galiläischen Heilers und Predigers Jesus von Nazareth scheint in Jerusalem nur kurze Zeit angehalten zu haben. Wahrscheinlich gingen Römer und Juden ziemlich schnell wieder zur Tagesordnung über; sie hielten mit dem Tod Jesu auch dessen Botschaft für erledigt. Da die Jünger Jesu geflohen waren (s.o. 4.1), galt offenbar auch die gesamte Bewegung für aufgelöst, so dass die Behörden keinerlei Anlass sahen, den Anhängern Jesu weiter nachzustellen. Mit der Hinrichtung Johannes des Täufers und der Kreuzigung Jesu schienen zwei messianisch-prophetische Gestalten und Bewegungen niedergeschlagen worden zu sein, die ihre Kraft nicht aus Waffen, sondern aus ihrer subversiven religiösen und ethischen Botschaft erhielten. Insgesamt war die Zeit kurz nach 30 zunächst relativ ruhig; weder für das Römische Reich insgesamt noch für Judäa werden gravierende Ereignisse berichtet. Auch die führenden jüdischen Gruppen der Pharisäer und Sadduzäer sahen wahrscheinlich den kurzen Auftritt des galiläischen Predigers Jesus von Nazareth und seiner galiläischen Anhänger als gescheitert und damit beendet an.
Die ersten Ereignisse
Jerusalem und Galiläa
Jerusalem als Stadt des Messias
Dann setzte eine mehrschichtige Bewegung ein: 1) Die aus Jerusalem geflohenen galiläischen Jünger und Jüngerinnen Jesu (vgl. Mk 15,47; 16,1) dürften zunächst einige Zeit in Galiläa geblieben sein. Dort führten die vorösterlichen Impulse Jesu in Verbindung mit Erscheinungen (Mk 16,7; 1Kor 15,5: ‚Kephas und die Zwölf‘; 15,6: ‚fünfhundert Brüder‘) und Beauftragungen des Erhöhten (Petrus: Mt 16,16–18) sowie neuartigen Geisterfahrungen (Reflexe in Apg 1,11; 2,7) zu einer Restitution des vorösterlichen Anhängerkreises von in Galiläa Verbliebenen und aus Jerusalem Zurückgekehrten. 2) Gleichzeitig blieben Sympathisanten Jesu in Jerusalem, so Josef von Arimathäa (und Josef Barsabbas, Matthias?) 45, ohne allerdings erkennbar Aktivitäten zu entwickeln. Zugleich gab es auch in Jerusalem Erscheinungen (Lk 24,34; Joh 20,11–18) und Geisterfahrungen (vgl. Apg 1,16; 2,1–36; 4,31). 3) Teile der galiläischen Christusgläubigen kehrten allmählich – von Juden und Römern zunächst unbemerkt – unter der Führung des Petrus nach Jerusalem zurück (vgl. Apg 1,12.13a) und bildeten dort mit den in Jerusalem verbliebenen Jesusverehrern etwas völlig Neues: die erste Gemeinde der Christusgläubigen. Zudem schlossen sich weitere Mitglieder der neuen innerjüdischen Bewegung an; aus Galiläa vor allem Teile der Familie Jesu (Maria, Jakobus; vgl. Apg 1,14b), aber auch unbekannte Menschen, die vom Auftreten Jesu in Jerusalem beeindruckt waren und nun als seine Sympathisanten wirkten. Jerusalem ist die heilige Stadt (Jes 48,2; 52,1), die Wohnung des Höchsten (Ps 46,5), wo Gott seine Königsherrschaft aufrichten wird (vgl. Jes 33,20–22; 54,10–14; 60,1ff). Jerusalem war innerhalb der jüdischen Eschatologie traditionell der Ort des Kommens bzw. Wiederkommens des Messias, so dass es für die Christusgläubigen naheliegend war, in Jerusalem die Ankunft des Messias Jesus von Nazareth zu erwarten 46. In den um 50 v.Chr. abgefassten Psalmen Salomos 17,21.22.26 heißt es: „Sieh zu, Herr, und richte ihnen ihren König, den Sohn Davids, zu der Zeit, die du ausersehen hast, o Gott, über Israel, deinen Knecht zu herrschen, und umgürte ihn mit Stärke, zu zermalmen ungerechte Fürsten, zu reinigen Jerusalem von Heidenvölkern. ... Und er wird versammeln ein heiliges Volk, das er führen wird in Gerechtigkeit …“ (vgl. ferner Bar 40,1; Hen 90; Sib 5, 414ff). Dort, wo Jesus gekreuzigt wurde, starb, auferstand und erschien, erhofften nun seine Anhänger die Wiederkunft.
Eine Schlüsselstellung kam innerhalb dieser Ereignisse wahrscheinlich Petrus zu (s.u. 5.2). Als Erstberufener und erster Zeuge des Auferstandenen hatte er trotz seines Versagens in der Passion eine besondere Autorität; er führte offenbar die sich konstituierende Gemeinschaft. Petrus wird in der Jüngerliste Apg 1,13 an erster Stelle genannt, er bestimmt das Handeln (vgl. Apg 1,15ff), hält die richtungsweisenden Reden (vgl. Apg 2,14–36) und vollbringt die ersten Wundertaten (vgl. Apg 3). Wiederum ist es Petrus, der in Apg 2,38 die früheste Verkündigung summarisch zusammenfasst: „Kehrt um, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, und ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistes empfangen.“
Erste Strukturen
Erste Mitglieder der Gemeinde
Über die anfänglichen Organisationsformen und Leitungsstrukturen der Jerusalemer Gemeinde wissen wir wenig. Im ältesten nachösterlichen Jüngerkreis spielten Organisations- und Leitungsfragen wahrscheinlich noch keine große Rolle. Die soziologischen Bedingungen der Stadt Jerusalem dürften allerdings nun auch auf die erste Gemeinde eingewirkt haben. Nach Apg 1,13 traf sich die Gemeinde in Jerusalem zunächst im Obergeschoss eines Hauses. Neben den Aposteln und galiläischen Jesusjüngern (vgl. Apg 1,11.13; 2,7) gehörten auch Frauen (Mk 15,40.47; 16,1: Maria Magdalena; Maria, die Mutter des Jose; Maria, die Mutter des Jakobus; Salome) sowie Maria, die Mutter Jesu, und seine Brüder dazu. Hinzu kommen Sympathisanten Jesu wie Josef von Arimathäa (Mk 15,43), Matthias (Apg 1,23.26) und Josef Barsabbas, genannt Justus (Apg 1,23); Maria, die Mutter des Johannes Markus mit der Dienerin Rhode (Apg 12,12–15) sowie Alexander und Rufus, die Söhne des Simon von Kyrene (Mk 15,21); die Emmaus-Jünger (Lk 24,18: Kleopas und ein unbekannter Jünger), Barnabas (Apg 4,36f), Mnason aus Zypern (Apg 21,16) und vielleicht auch Silvanus/Silas (1Thess 1,1; Apg 15,22.27) und Judas Barsabbas (Apg 15,22.27). Auch Andronikus und Junia (s.u. 5.2), die bereits vor Paulus zum Glauben fanden (Röm 16,7), dürften schon sehr früh zur Gemeinde gehört haben. Vielleicht zählten sie zu Einwanderern aus Rom, die über Geisterfahrungen zur Gemeinde fanden (vgl. Apg 2,10) 47. In einer etwas späteren Phase der Gemeindeentwicklung könnten Hananias und Saphira (Apg 5,1–11), hellenistische Juden aus der Diaspora (vgl. die Witwen der Hellenisten in Apg 6,1), der Prophet Agabus (Apg 11,28; 21,10) sowie jüdische Priester (Apg 6,7) zur Gemeinde gestoßen sein 48.
Erste Strukturen
In Apg 2,46 wird berichtet, dass die Gemeinde zum Brotbrechen täglich in den Häusern zusammenkam. Diese Mahlgemeinschaften werden in der Regel mehr Personen umfasst haben, als zu den jeweiligen Hausgemeinschaften gehörten. Der Größe der Häuser in Jerusalem entsprechend, nahmen wohl ca. 20–30 Personen an diesen Mahlgemeinschaften teil. Häuser in und um Jerusalem werden auch in Mk 14,3 (Simon von Betanien); Lk 24,13.29 (Emmaus-Jünger), Apg 1,13 (ein Obergeschoss); 12,12f (Maria, die Mutter des Johannes Markus), 21,16 (Mnason aus Zypern) und Gal 1,18 (Petrus kann Paulus für 2 Wochen aufnehmen) vorausgesetzt. Es muss in der Gesamtgemeinde in Jerusalem sehr bald Untergliederungen, d.h. Hauskirchen gegeben haben. Darauf weist der sprachliche Unterschied zwischen den griechisch sprechenden hellenistischen Juden und den aramäisch sprechenden palästinischen Juden hin (s.u. 5.5). Solche Treffen erforderten naturgemäß eine gewisse Organisation und auch Leitungspersonen. Dies könnte gewählten Leitern oder den jeweiligen Hausvorständen übertragen worden sein.
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