Vom Boot aus gelang es ihm, wieder das Jacket von Thomas zu fassen. Doch an ein Anheben des Verunglückten war nicht zu denken. Horst spürte, wie seine Kräfte mehr und mehr schwanden – lange würde er nicht mehr durchhalten und Hilfe war weit und breit nicht in Sicht! Wenn doch bloß ein Boot in der Nähe wäre, das er auf ihre Notlage aufmerksam machen könnte! Im selben Moment drang ein merkwürdig gedämpftes Geräusch wie von weiter Ferne an sein Ohr. Irritiert drehte er sich in die Richtung, aus der er das Geräusch zu hören gemeint hatte. Irgendwie kam es ihm bekannt vor, aber seine erschöpften Sinne schienen ihm allmählich die Gefolgschaft zu versagen. Da! Wieder dieses Geräusch, von links unten, meinte er, könnte es gekommen sein! Halluzinationen – ganz offensichtlich! Horst senkte den Blick auf die Stelle, wo er das Klingeln vermutet hatte. Das Klingeln! Die Sporttasche! Und wieder hörte er es: Richtig, das kam aus seiner Sporttasche, das war sein Handy! Doch, er hatte es vorher eingepackt und offenbar vergessen auszuschalten. Gott sei Dank!
Mit zitternden, vor Kälte steifen Fingern öffnete er den Reißverschluss der Tasche und durchwühlte hektisch deren Inhalt. Da war es! Endlich! Wieder ein Klingeln, jetzt klar und deutlich zu hören. Mit einem energischen Ruck riss er das Telefon aus der Tasche und drückte den grünen Knopf. »Hilfe!« Es war mehr ein heiseres, fast unverständliches Krächzen, das er mühsam zwischen den Zähnen hervorstieß, als ein Hilferuf. War das überhaupt seine Stimme gewesen, die er da gerade gehört hatte?
»Hallo? Hallo – ist da jemand?!« Der Teilnehmer am anderen Ende schien nichts verstanden zu haben.
Horst versuchte, die mehr und mehr von ihm Besitz ergreifende Panik hinunterzuschlucken. Konzentration war jetzt alles. Er schloss die Augen, versuchte einen ruhigen Atemzug und murmelte leise, so leise, dass er es selbst kaum hören konnte: »Hilfe! Helfen Sie mir bitte!«
»Hallo! Hallo? Wer ist denn da am Telefon?«
Das war zu leise gewesen! Klar! Horst wurde schwindlig, aber es half alles nichts: Er musste sich jetzt zusammennehmen! Das war ihre letzte Chance! Also – ein neuerlicher Versuch – und diesesmal konnte er relativ deutlich eine Stimme hören, eine ihm fremde Stimme, gerade so, als ob jemand neben ihm stünde und in sein Mikrofon sprechen würde: »Hier ist Meyer, Horst Meyer! Hilfe! Helfen Sie mir bitte, wir sind in Seenot …«
Jetzt überschlug sich die Stimme des Gesprächsteilnehmers: »Horst! Was soll denn das! Mach keine Witze mit mir Horst! Komm, lass den Quatsch!«
Wie durch immer dichter werdende Nebelschwaden registrierte Horst den Tonfall und die ihm irgendwie bekannte Aussprache des anderen. Wo hatte er schon einmal … früher … schon lange her … Protnik! Das war Protnik! Protnik war am Telefon! Der ihm so vertraute Name elektrisierte ihn förmlich und verschaffte ihm ein letztes Mal die nötige Energie, um seinen Hilferuf abzusetzen. Jetzt nur nicht durchdrehen! Bleib ruhig und versuche, deutlich zu artikulieren: »Hallo, Michael«, raunte er heiser in den Hörer. »Michael, das ist kein Quatsch. Ich bin in Seenot! Thomas auch! Michael, wir brauchen Hilfe, dringend! … Sind getaucht …« Das Sprechen fiel ihm schwerer und schwerer. »Getaucht … Bodensee … Michael … Jura … von Schweiz aus … Michael … merk dir … Bottighofen … Tauchen … Dekounfall … Micha … schnell …«
Der Hörer fiel ihm aus der Hand und Horst sackte zusammen. Ein undurchdringlicher weißer Nebel breitete sich in seinem Kopf aus und Sekundenbruchteile später schoss er durch die unheimliche tiefe schwarze Dunkelheit des unendlichen Universums, ein Staubkorn im Weltall … Horst war in einer gnädigen tiefen Ohnmacht versunken …
»Horst, hallo, Horst, wo genau, sagst du, war das? Horst!!! Melde dich!! Horst!!!« Die Panik hatte nun auch Protnik am anderen Ende der Leitung ergriffen. Was um alles in der Welt war da passiert? Hoffentlich hatte er den fast unverständlich geflüsterten Ortsnamen richtig verstanden! Bottenhofen? Bottichkofen? »Horst! Sag doch einmal was! Horst!!!!!«
Zwei Tage nach dem grässlichen Unfall bekam Horst Besuch in seinem Zimmer im Überlinger Kreiskrankenhaus, wo die Ärzte ihn, all seinen Protesten zum Trotz, noch eine Zeit lang zur Beobachtung untergebracht hatten.
Es klopfte leise an der Tür und kurz darauf betrat Michael Protnik den Raum: »Ja, da ist ja unsere Wasserleiche! Frisch gewaschen und gekämmt! Und schon wieder so schöne rote Bäckchen!«
Horst stöhnte leise. »Protnik, bitte! Ich bin nicht so richtig in Stimmung für alberne Scherze!«
Beschwichtigend hob sein Besucher die Hände. »Ist ja schon gut! Ich hab’s ja nur gut gemeint! Wollte dich halt ein bisschen aufmuntern! Aber klar, akzeptiert: Du musst die ganze Geschichte erst mal verdaut haben! Seh ich ein – logisch!« Jovial tätschelte er seinem Freund die Schulter. »Wird schon wieder werden, wart nur mal ab!«
»Wenn ich nur wüsste, was eigentlich überhaupt los war, dann wäre ich ja selber schon ein ganzes Stück weiter!« Nachdenklich stierte Horst auf die Decke seines Krankenbettes, danach blickte er auf. »Sag mal, Sputnik! Hast du denn in der Zwischenzeit irgendwas läuten hören?« Forschend blickte er seinem Freund und ehemaligen Kollegen aus Ulmer Mordkommissionszeiten ins Gesicht. Ein kaum wahrnehmbares, ganz leichtes Flackern in dessen Augen verriet die Verlegenheit, in der dieser bei der Beantwortung der Frage kurzzeitig steckte.
Verlegen senkte Protnik den Kopf. »Nö, eigentlich nichts! Die Zeitungen haben halt einen Artikel gebracht über einen tödlichen Unfall beim Wracktauchen da drüben, in der Schweiz. Nichts Großartiges eigentlich.«
Horst wusste, da steckte mehr dahinter. Protnik versuchte, ihn zu schonen. »Und uneigentlich? Was hört man da so? Ich verwette meinen letzten Liter Pressluft, wenn die nicht was von bodenlosem Leichtsinn, Unerfahrenheit und Amateuren in ihr Blatt geschmiert haben!« In diesem Augenblick schoss Horst ein stechender Schmerz durch die Brust. Seine Wette mit dem letzten Liter Luft war aber auch alles andere als geschmackvoll gewesen, denn in genau dieser Situation hatten er und sein verunglückter Freund ja letztendlich gesteckt. Seine Nerven waren anscheinend immer noch …
Doch bevor Horst sich weiter in Selbstmitleid und diffuse Kritik an nicht gelesenen Zeitungsartikeln verstricken konnte, polterte es neuerlich an der Zimmertür. Ohne die Aufforderung einzutreten abzuwarten, flog noch im selben Moment die Tür auf und vier Personen stürmten in das Krankenzimmer. Überrascht wandten Horst und Protnik sich um.
Bei den vier Besuchern handelte es sich um den Professor, der Horst und Thomas in der Druckkammer behandelt hatte, sowie einen Polizeibeamten in Uniform und zwei Mitdreißiger, die Horst bisher noch nie gesehen hatte.
»Entschuldigen Sie, dass wir einfach so hereinplatzen«, begann der Professor grußlos die Unterhaltung. Und man merkte es ihm auf den ersten Blick an: Es war ihm völlig schnuppe, ob sich Horst und sein Besucher gestört fühlten oder nicht. Eine unangenehme Spannung schien mit einem Mal den Raum zu beherrschen.
»Also, um gleich zur Sache zu kommen«, damit drehte sich der Arzt mit einer leichten Bewegung des Oberkörpers in Richtung der beiden Männer in Zivil, die gerade die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Diese beiden Herren sind Kollegen von Ihnen – und von Ihrem verstorbenen Tauchpartner!«, fügte er stirnrunzelnd hinzu.
Allein die Formulierung »verstorbener Tauchpartner« ließ Horst frösteln. Er konnte noch immer nicht glauben, was ihm da vorgestern widerfahren war. Matt nickte er den beiden zu.
Der größere der Kollegen machte die Andeutung eines Kopfnickens und zog seinen Dienstausweis aus der Jackentasche: »Hauptkommissar Hofer, Polizeidirektion Konstanz. Und das hier«, er nickte in Richtung des neben ihm stehenden Mannes, »das ist der Kollege Schlotterbeck vom Landeskriminalamt in Stuttgart.«
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