»Na, der Landrat!« Genauso indigniert glotzte der ganz offensichtlich schwer gestresste Mediziner nun zurück. Sicher, auch für einen wie ihn, der ja jeden Tag schon rein berufsmäßig irgendwie im Clinch mit dem Tod zu liegen hatte, war so eine Geschichte alles andere als leicht zu verdauen. Wozu war man schließlich – zu Recht – stolz auf die Druckkammer im Überlinger Krankenhaus? Um wie viele Lichtjahre würde es nun die Statistik wieder zurückwerfen, wenn man einen Exitus während des laufenden Betriebs zu verzeichnen hatte. Während eines Betriebs, der doch schon so viele Leben gerettet hatte – wie auch immer und zu welchem Preis auch immer (was sowohl die Frage nach der künftigen Lebensqualität des so geretteten, eventuell im Rollstuhl sitzenden Notfallpatienten genauso aufwarf wie die hartnäckige, ständig wiederkehrende Frage der Krankenkassen nach Kosten und Effizienz einer solchen Einrichtung). Klar, dass die verantwortlichen und auf ihre Druckkammer wie erwähnt stolzen Ärzte alles andere als erbaut darüber waren, dass nach langer Zeit mal wieder einer ihrer Patienten »über den Jordan gegangen war«!
»Welcher Landrat?« Soweit Horst sich in der Kommunalpolitik des Landkreises Friedrichshafen auskannte, und zu diesem gehörte schließlich auch die Stadt Überlingen, hörte der Landrat des Bodenseekreises auf einen ganz anderen Namen.
Mit einer unwirschen Bewegung des rechten Armes schien der Chefarzt Horsts Frage regelrecht vom Tisch zu wischen. »Na, der Dr. Bär eben – der Landrat von Konstanz! Wer denn auch sonst?!« Missmutig fixierte er sein Gegenüber durch die dicke Hornbrille hindurch.
»Aber der ist doch dafür gar nicht zuständig, woher weiß denn der schon …«
»Was heißt hier: nicht zuständig? Schließlich ist der Unfall – rein theoretisch – in der Schweiz passiert und ein Beamter aus dem Landkreis Konstanz war das Opfer! Wir sind doch hier nicht in einer Bananenrepublik, sondern in einem modernen telekommunikativen Rechtsstaat, hören Sie mal! Da weiß man so was eben ganz einfach! Da hat man das schlichtweg zu wissen!« Zornesfalten zerfurchten nun die Stirn des Mediziners. »Und glauben Sie bloß nicht, dass diese Geschichte so mir-nichts-dir-nichts im Sande verlaufen wird! Das ist eine internationale Affäre, die noch nicht einmal innerhalb der Europäischen Gemeinschaft geregelt werden kann. Denn der Unfall ist schließlich auf Schweizer Boden passiert, und das macht die Sache besonders delikat!«
Horst konnte – trotz seines momentanen Gemütszustandes – einfach nicht anders: »Na ja, Schweizer Boden würde ich nicht direkt sagen, eher schon Schweizer Wasser …«
Der Professor fixierte ihn mit einem bösen Blick: »Also ich an Ihrer Stelle würde mir mehr Gedanken über eine ordentliche Erklärung der ganzen Chose machen, als mein bisschen Gehirnschmalz auf solch eine saudumme Replik zu verwenden! Jetzt sagen Sie doch endlich mal: Was ist da unten denn eigentlich passiert?«
»Wenn ich das nur wüsste!« Horst war dem Wahnsinn nahe; es war ein regelrechter Albtraum, dem er sich seit Stunden wehrlos ausgesetzt fühlte. Und wenn er ehrlich war, wusste er nicht mehr aus noch ein. »Ich kann Ihnen nur so viel sagen, dass wir zusammen ordnungsgemäß abgetaucht sind, alles war vorher durchgecheckt, alle Systeme waren in Ordnung. Wir haben nichts übertrieben, haben uns am Grund völlig kontrolliert und normal verhalten, Thomas war sowieso ein absolut umsichtiger und erfahrener Taucher …«
Der Professor schnaubte wütend: »Erfahrener Taucher! Wenn ich das schon höre … Wie viele ›erfahrene Taucher‹ vom Teufelstisch habe ich schon hinterher auseinandernehmen müssen? Und jedes Mal dasselbe: Selbstüberschätzung, Panik, Exitus …!«
Jetzt stieg auch in Horst allmählich die Galle hoch! Nein, derartige Legenden würde er seinem toten Freund nicht anhängen lassen! »Reden Sie keinen Blödsinn, ja! Sie waren schließlich nicht dabei! Also noch mal: Da war nichts und da gab es auch nicht den Hauch eines Fehlverhaltens! Mir ist die ganze Geschichte mehr als schleierhaft!«
Horst wurde schwindlig, wenn er auch nur ansatzweise an die zurückliegenden fünf Horrorstunden dachte: Als er panikartig zurück zum Ankerseil geschwommen war, hatte er schemenartig zuckende Bewegungen im Wasser wahrgenommen. Das musste Thomas sein! Doch durch das aufgrund der hektischen Flossenschläge heftig durcheinandergewirbelte Sediment war eine klare Sicht selbst auf gerade mal drei Meter Entfernung unmöglich geworden. Thomas! Was war mit ihm geschehen?! Wieso bewegte er sich derart merkwürdig und wieso baumelte da unter ihm … Nein! Was er da sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren! Weshalb um alles in der Welt hatte Thomas denn sein Mundstück herausgenommen und es offenbar auch nicht einmal in der Hand behalten?
Horst hatte keine Chance, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen, denn im selben Moment schoss Thomas, wie von einer Rakete getrieben, in Richtung Oberfläche! Das durfte doch alles einfach nicht wahr sein! Horst fühlte sein Herz unter dem dicken Neoprenanzug heftig pochen. War das etwa die erste Stufe des Tiefenrausches? Verfolgten ihn üble Halluzinationen? War mit Thomas tatsächlich irgendetwas Schlimmes geschehen oder befand er sich selbst mittlerweile in Lebensgefahr, weil seine Sinne ihm Dinge vorspiegelten, die weitab von der Realität waren, ja sein mussten?! Hatte in Wirklichkeit also ihn der Tiefenrausch in seine tödliche Umklammerung genommen?
Unter Nichtbeachtung sämtlicher Dekotabellen und Sicherheitsmargen folgte Horst seinem Tauchpartner so schnell wie irgend möglich nach oben. An der Wasseroberfläche angekommen glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können. Tatsächlich: Hier trieb Thomas, mit dem Bauch nach oben, das Mundstück ausgespuckt (ganz offensichtlich war ihm unter Wasser schlecht geworden und er hatte sich übergeben müssen). Ein dünnes rotes Rinnsal floss aus seinem Mund, die Augen waren in panischem Entsetzen auf einen fiktiven Punkt am Himmel gerichtet, der Atem ging unregelmäßig, keuchend und stoßweise.
»Thomas, um Gottes willen, Thomas! Was ist denn um alles in der Welt passiert da unten?« Nur mühsam stieß Horst die Worte hervor, überwältigt vom dramatischen Geschehen der letzten fünf Minuten und selbst kurz vor einem Ohnmachtsanfall stehend!
Doch aus Thomas’ Mund kam keine Antwort mehr. Hektisch zerrte Horst am Jacket des Verunglückten – er musste ihn irgendwie ins Boot bekommen, aber wie um alles in der Welt? Übelkeit stieg in ihm auf, eine eiserne Kralle schien gnadenlos sein Gehirn zusammenzuquetschen! Er war viel zu schnell aufgestiegen, das war klar, aber was tun jetzt? Bloß nicht ohnmächtig werden, alle Kräfte zusammennehmen, sich konzentrieren, dagegen ankämpfen, sonst hatten sie beide keine Chance mehr. Wo war das Boot eigentlich? Er schaute sich um – na, Gott sei Dank! Er löste seinen Griff von Thomas und schwamm mit wenigen Flossenschlägen hinüber. Aber wie hineinkommen? Das Boot neigte sich bedenklich, als er sich mit beiden Händen an der Seite festhielt. Jetzt hätte er Thomas gebraucht, wenn der sich an der gegenüberliegenden Seite festhalten könnte und so für das nötige Gegengewicht gesorgt hätte! Aber von Thomas war keine Hilfe zu erwarten – im Gegenteil. Ein rascher Blick zurück ließ Horst fast verzweifeln: Das rote Rinnsal aus dem Mund von Thomas hatte sich verstärkt, die Atmung war weder sicht- noch hörbar, es musste nun ganz rasch etwas passieren!
Krampfhaft schälte sich Horst aus seinem Jacket. Nur so konnte es gehen! Nur wenn er das Gewicht von Flasche und Blei abgestreift hatte, war er eventuell in der Lage, ins Boot zu klettern. Unter Aufbietung all seiner verbliebenen Kräfte und permanent gegen die ständig zunehmende Übelkeit ankämpfend zog er sich – unterstützt von heftigen Paddelbewegungen mit den Flossen – in das sich bedrohlich zur Seite neigende Boot. Vor Anstrengung keuchend blieb er einige Sekunden bäuchlings so auf dem Boden liegen. Schwarze Dunkelheit breitete sich in seinem Kopf aus. Nein, das durfte er nicht zulassen, er musste bei Bewusstsein bleiben, er musste jetzt schauen, wie er Thomas in das Boot hieven konnte. Irgendwie musste er es schaffen und dann versuchen, ans Ufer zu gelangen und Hilfe zu suchen. Hoffentlich kam er mit dem Motor zurecht! Aber jetzt galt es erst mal, Thomas aus dem Wasser zu bekommen!
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