Eva-Maria Landwehr - Kunst des Historismus

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Der Rückgriff auf historische Kunststile war keine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Neu war jedoch ein pluralistisches Stilverständnis, das in enger Relation zu den zeitgenössischen sozialen, konfessionellen und politischen Gegebenheiten stand. Dieses Buch betrachtet die jeweiligen Auftraggeber, erklärt den assoziativen Einsatz der historischen Stile, und befasst sich mit der Welt der Rezipienten und Kunstschaffenden.

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Eva-Maria Landwehr

Kunst des Historismus

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2012

Dr. Eva-Maria Landwehr ist Kunsthistorikerin in Düsseldorf.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.deabrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien

Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

UTB-Band-Nr. 3645 | ISBN 978-3-8252-3645-8

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Bürgertum: Stil für alle

Übergang der Institutionen und Architekturtypologien vom Adel auf das Bürgertum

Städtebau: Der Bürger löst die ordnende fürstliche Hand ab

Rathäuser und Bürgerstolz

Technik trifft auf Tradition: die Eisenbahn

Bürgerliche Wohnkultur

Von der Demokratisierung der Historienmalerei zur Aristokratisierung des Künstlers

3. Adel: Nostalgie als Notwendigkeit

Stadtresidenzen im Wandel

Ländliche Residenzen und Schlösser

Parkarchitekturen und Burgen‚romantik‘

Interieur

Memoria

Adel in Konkurrenz zum Adel

Denkmäler

Adel in Frankreich und Italien

4. Nation: Gibt es den Einheits-Stil?

Nation, Nationalbewusstsein und Aspekte des nationalen Historismus

Die Kirche als Nationaldenkmal

Wien und die Suche nach einem Nationalstil

Nationalmuseen

Eroberer und Eroberte

5. Kirche: Vorwärts in die Vergangenheit

Kirche und Kirchenbau im 19. Jahrhundert

Die Gotik: das Perpetuum mobile der Stile

Alternativen gesucht: Der ‚Gänsemarsch‘ der Stile von der Gotik zum Barock

Die sakrale Monumentalmalerei: Propaganda für das Papsttum

Synagogen im Spannungsfeld zwischen Assimilation und Selbstbehauptung

6. Theorie und Praxis

Gotik und Neugotik

Renaissance und Neurenaissance

Rundbogenstil, Romanik und Neuromanik

Barock und Neubarock

Architektur und Technik

Kunsthandwerk und Kunstgewerbe

Historienmalerei

Bibliografie

Abbildungsnachweise

Namens- und Ortsregister

Rückumschlag

1. картинка 2Einleitung

„Und es stellte sich heraus, daß auch die Stillosigkeit ein Stil ist“ – dieses unbarmherzige Urteil formulierte Egon Friedell in seiner erstmals 1927 – 31 erschienenen „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (Friedell 2003, S. 1300). Auch wenn dieser Satz sich zunächst wie das Ende eines Märchens liest, verstand sich Friedell keineswegs als Märchenonkel – nein, er war ein überaus sarkastischer und bissiger Analytiker und ließ kein gutes Haar an der historisch aufgefassten Kunst vor allem der Siebziger- und Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts. Und damit verteidigte er nicht etwa eine singuläre oder gar abwegige Position: „Stillos und charakterlos“ sei das 19. Jahrhundert, eben eine reine „Uebergangsperiode“, so lautete ein weiteres Urteil von Heinrich Schroers bereits aus dem Jahr 1896 über die künstlerischen Leistungen des eigenen Jahrhunderts – und damit auch der Gegenwart (Schroers 1896, Sp. 239f.). Hermann Muthesius stellte dann 1903 fest, dass dem 19. Jahrhundert der Wille zum Stil gänzlich abhanden gekommen sei: „Früher gab es keine Stile, sondern nur eine gerade herrschende Kunstrichtung, der sich mit völliger Selbstverständlichkeit alles unterordnete. Erst im neunzehnten Jahrhundert wurde die Menschheit aus diesem künstlerischen Paradies vertrieben (…)“ (Döhmer 1976, Zitat S. 81).

Zu den Charakteristika, die der historistischen Kunst von ihren Schöpfern zugeschrieben wurde, zählte gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch überraschenderweise an erster Stelle eine ausgeprägte Modernität und Eigenständigkeit. Historistisch arbeitende Architekten zum Beispiel betrachteten ihre Entwürfe und Bauwerke als autarke Leistungen, die sie in der Überzeugung bestärkten, der Vergangenheit technisch überlegen zu sein. Dabei waren es vor allem die neuen Baumaterialien wie Eisen und Zement gewesen, die Konstruktionen möglich machten, die, so wörtlich, „für die Alten unausführbar gewesen wären“ (München und seine Bauten 1912, S. 210).

[<<7] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Könnte man also die historistische Kunst des 19. Jahrhunderts als eine Fleisch gewordene Persönlichkeit betrachten, dann würde ihr die Psychologie des 21. Jahrhunderts mit großer Wahrscheinlichkeit ein ernsthaftes Identitätsproblem und wohl auch ein ausgeprägtes neurotisches Potenzial attestieren. Das Gesamturteil über den Historismus in der Kunst vor allem der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts präsentiert sich als eine kuriose Mischung aus einerseits selbstbewussten und wohlwollenden, andererseits zutiefst verächtlichen Meinungsäußerungen. Der Tenor dieser Aussagen zum Stildilemma ihrer Zeit, die sich in Hülle und Fülle aus den zeitgenössischen Quellen herausfiltern lassen, reicht von euphorischer Selbstüberschätzung über anspruchslose Zufriedenheit bis hin zu selbstquälerischer Geißelung. Besonders gegen Ende des Jahrhunderts, als die Erklärungsnot für die andauernden und immer schneller aufeinander folgenden Stilwechsel übermächtig wurde, bekam das Klagelied über die mäandernde Stilkultur des eigenen Jahrhunderts einen larmoyanten Ton, immer kürzer wurden die zeitlichen Abstände, in denen man sich mit einer historischen ‚Erklärung‘ für den Einsatz eines bestimmten Stils zufriedengab. Große Befürchtungen in ästhetischer Hinsicht weckte die fehlende Verbindlichkeit in Stilfragen, verbunden mit der Sorge, der Stilpluralismus könnte einer haltlosen Beliebigkeit Vorschub leisten, die tradierte symbolische oder ikonologische Aussagewerte ignorierte.

Über mangelnde Abwechslung hatte das 19. Jahrhundert generell nicht zu klagen, kein anderes Jahrhundert war so reich an rasch aufeinander folgenden Umbrüchen und Wandlungen. Beginnend mit der Französischen Revolution noch im 18. Jahrhundert waren sämtliche Gesetzmäßigkeiten, seien sie gesellschaftlicher, politischer, konfessioneller oder wirtschaftlicher Natur, zuerst auf den Prüfstand und dann auf den Kopf gestellt worden. Vor allem die Industrialisierung hatte für den größten Teil der Bevölkerung tiefgreifende Änderungen mit sich gebracht: einerseits wirtschaftliche Liberalisierung und Aufstiegschancen, andererseits Landflucht, explosionsartiges Städtewachstum und millionenfache Hoffnungslosigkeit des Proletariats.

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