»Blödsinn«, brummelte Horst und wies mit einer raschen Kinnbewegung auf den linken Unterarm von Thomas. »Wenn einer wie du tauchen kann, obwohl er die Krätze hat, dann wird’s bei mir mindestens genauso gut gehen!«
Augenblicklich zog Thomas seine Rechte vom Unterarm, an dem er sich, durch den Tauchanzug hindurch, heftig gekratzt hatte. »Ist schon nicht so tragisch! Ich weiß auch nicht, was da los ist, wahrscheinlich hab ich tatsächlich was Falsches gegessen: irgendwelche ungewaschenen gespritzten Erdbeeren oder so!«
»Und das als WKDler«, grinste Horst. »Das passt ja wie die Faust aufs Auge!«
»Mach dich nur lustig über mich. Also: Hast du deine Flasche schon aufgedreht? Okay, wie viel Luft ist drin?«
Horst warf einen prüfenden Blick auf seinen Druckanzeiger, dann nickte er zufrieden. »220 bar, kann man nicht meckern. Das müsste eigentlich reichen für einmal runter und einmal rauf. Also – alles klar. Und bei dir?«
Thomas runzelte die Stirn, drehte noch einmal am Ventil seiner Pressluftflasche und drückte anschließend auf die Luftdusche seines Mundstücks. Wieder starrte er auf seinen Druckanzeiger. »Komisch, irgendwie haben es die Jungs von der Tauchbasis mit mir diesesmal nicht so gut gemeint. 170 bar nur! Da müssen wir uns sputen! Ich sag’s ja: so eine Doppelflasche, die wär hier schon viel eher das Richtige. Aber gut, jetzt ist es halt, wie’s ist, und das heißt wirklich: Rein ins Wasser und ruckzuck runter an der Ankerleine. Aber mehr als zehn Minuten Grundzeit sollten wir nicht riskieren, was meinst du?«
Horst warf zur Sicherheit nochmals einen Blick auf die Deko-Tabelle, die er, Tauchcomputer hin oder her, grundsätzlich bei jedem Tauchgang mit sich führte. Dann nickte er zustimmend. »Seh ich genauso! Rein-runter-rauf-raus! Aber auf sechs Meter und auf drei Meter machen wir jeweils fünf Minuten Sicherheitsstopp – und wenn’s uns auch noch so friert. Einverstanden?«
Auch Thomas nickte. »Ist in Ordnung! Also dann: Haube auf, Handschuhe an, Flasche drauf und runter! Ich bin ja wirklich gespannt, was du sagst, wenn wir wieder oben sind! Jede Wette, dass du das mindestens genauso klasse finden wirst wie das Tauchen in irgendeinem Korallenmeer. Diesen Kick, den kriegst du nämlich nur hier, und nicht in irgendeiner lauwarmen Badewanne!«
Das mit dem Kick sollte sich wenig später als absolut zutreffend erweisen, das mit der Wette war eine ganz andere Sache …
Schon kurz nach dem Hineinspringen fühlte Horst die eisige Kälte, die sich um ihn herum ausbreitete und die ihn regelrecht zu erdrücken schien. Dazu kam bereits nach fünf oder sechs Metern absolute Dunkelheit, das grünlich-braune Dämmerlicht kurz unter der Wasseroberfläche war schnell einem merkwürdig gräulichen Blau gewichen, bevor er von völliger Dunkelheit umgeben war. In Anbetracht der Tatsache, dass sie mit ihrem begrenzten Luftvorrat beschlossen hatten, zügig abzutauchen, hatte sich Horst zwei Kilogramm Blei mehr als üblich in die Seitentaschen seines Jackets gesteckt.
Verdammt! Wo war denn eigentlich die Ankerleine, an der sie abgetaucht waren, und vor allem: Wo war Thomas? Horst schaltete die Lampe an, doch das Licht des Scheinwerfers reichte schätzungsweise gerade einmal drei Meter weit. Die zahllosen Schwebteilchen schienen das Licht geradezu aufzufressen, und so fühlte er sich wie gefangen in einem undurchdringbaren schwarzen Käfig, in dessen enger Mitte ein trübes grüngelbes Irrlicht tanzte!
12, 13, 14, 15 Meter: der Tiefenmesser auf seinem Tauchcomputer am Handgelenk bestätigte Horsts Eindruck.
Er sank schnell, so schnell, dass er ständig damit beschäftigt war, gegen den sich permanent aufbauenden Druck in den Ohren anzupressen. Die unangenehme klamme Kälte machte den Ohren zusätzlich zu schaffen, aber jetzt bloß nicht verkrampfen und bloß nicht in Panik geraten!
Leichter gesagt als getan! Und immer noch: Wo um alles in der Welt war Thomas? Er knipste die Lampe aus und spähte angestrengt in die ihn umgebende angsteinflößende Dunkelheit. Keine Spur von seinem Kollegen! Weit und breit kein Lebenszeichen, nichts … Vielleicht wäre es besser, Luft ins Jacket zu pumpen und einfach noch mal hoch an die Oberfläche zu steigen. Und dann von oben noch einmal kontrolliert mit dem Abstieg zu beginnen, dann aber wirklich direkt und unmittelbar an der Ankerleine. Quatsch, verwarf er augenblicklich diesen Gedanken. Bis er jetzt oben wäre und die Luft herausgeblasen hätte, um dann wieder nach unten zu sinken, also das wären mindestens drei Minuten, die er dann auf Thomas verloren hätte. Und das bei dessen sowieso schon knappem Luftvorrat und bei ihrer maximalen Grundzeit von zehn Minuten. Womöglich mussten sie das Wrack am Grund erst einmal suchen, da bliebe ja dann nicht einmal mehr … Da, war da nicht grade eben eine Art Blitz ganz schwach durchs Wasser geschossen?
Augenblicklich verwarf er seine Gedankengänge und konzentrierte sich auf die Stelle, an der er gemeint hatte, den Lichtblitze gesehen zu haben. Aber da war nichts mehr außer tiefer schwarzer Dunkelheit! Halt! Doch! Wieder ein Blitz und jetzt, eine Sekunde später, zuckte der nächste durch das Wasser! Das musste Thomas sein, der jetzt seinen Blinker für Nachttauchgänge eingeschaltet hatte. Dessen Blitzlicht war so stark, dass es sogar die undurchdringlich scheinende Dunkelheit zu durchschneiden vermochte – wenngleich auch immer nur für Sekundenbruchteile, aber andererseits lange genug, um ihm den Weg zu seinem Tauchpartner zu weisen.
Im selben Moment verspürte Horst einen leichten Widerstand an seinen Flossen und gleich danach sank er rücklings auf den Boden. Anscheinend war der »Sinkflug« zu Ende und er war nun auf dem Grund des Sees angekommen. Hastig tastete Horst nach seiner Lampe und schaltete sie ein. Igitt – was war das denn?! Offensichtlich lag er hier in fast 40 Metern Tiefe mitten im zentimeterdicken Schlick, den er mit jeder Fuß- oder Handbewegung zusätzlich aufwirbelte. Eine Wolke aus Sediment und Schwebteilchen, die das bisschen Sicht, das der See überhaupt bloß zuließ, vollends zunichtemachte! Na bravo: ein wunderschöner Tauchgang! Da lag er also nun auf 40 Meter Tiefe im Schmodder, umgeben von Wolken eiskalten-schlammigen Wassers!
In diesem Moment erreichte ihn der Strahl einer Lampe: Unmittelbar vor seiner Maske tauchte der Kopf von Thomas auf. Er sah ihm forschend in die Augen, klar, Horst gab wahrscheinlich nach seiner Landung im Schlammbad einen derart jammervollen Anblick ab, dass die Vermutung nahelag, irgendetwas sei mit ihm nicht in Ordnung. Wie ein Maikäfer rücklings auf dem Misthaufen, schoss es ihm durch den Kopf und trotz der Kälte und der unangenehmen Dunkelheit musste er bei dieser Vorstellung lächeln.
Thomas presste die Spitzen von Daumen und Zeigefinger aufeinander und symbolisierte damit ein O, das international gebräuchliche Unterwasserzeichen für die Frage »Ist alles okay – ist alles in Ordnung?« Horst nickte und tat es seinem Tauchpartner nach. Das war die Antwort: »Alles okay.« Und den Umständen entsprechend war es ja auch so, obwohl er sich an schönere Tauchgänge erinnern konnte.
Horst griff mit der Rechten an den Inflatorschlauch seines Jackets und ließ mit zwei kräftigen Stößen Pressluft in die Weste strömen. Bei dem gewaltigen Druck in dieser Tiefe konnte das im Sinne einer besseren Tarierung auf gar keinen Fall schaden. Dann stieß er sich mit derselben Hand leicht vom Untergrund ab: ekelhaft, wie er dabei mit dem Handschuh in den morastigen Schlick einsank. Aber immerhin, er »stand« dank dieses Manövers nun wieder senkrecht im Wasser. Vorsichtig schwenkte er die Lampe ringsum. Tatsächlich, da war ja die Ankerleine, an der sie abgetaucht waren. Sie hatten es also geschafft, exakt unter ihrem Boot hinunterzudriften. Immerhin!
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