„Gut, ich komme mit. Ich hoffe, Sie haben nicht zu viel versprochen.“
Er grinste mich an.
„Du wirst es nicht bereuen.“
Er drückte den Halteknopf und wir fuhren weiter. Ich bemerkte, dass nur der elfte Knopf leuchtete. Entweder hatte ich vorhin in meiner Panik beim Einstieg genau den Knopf gedrückt, der eh schon leuchtete, oder er hatte noch gar keinen gedrückt gehabt. Beides kam mir sehr unwahrscheinlich vor. Aber nun fuhren wir die letzten Stockwerke hinauf zum elften Stock. Er stieg aus und wandte sich nach rechts. Wir gingen an vielen Büros vorbei. Einige hatten Glasfronten, aber bei den meisten waren die Rollos unten.In den Büros, die einsehbar waren, konnte ich wieder Leute in dieser seltsamen Kleidung sehen, die ich schon unten beobachtet hatte. Alle hatten kurze Hosen an. Ich fragte mich, wieso der Mann vor mir lange Hosen trug. Wer war er?
In seinem Büro angekommen, öffnete er die Tür und hielt sie mir auf. Ich ging voran und staunte nicht schlecht. Trotz der beeindruckenden dunklen Bücherregale aus Eiche, die sich die Wände entlang erstreckten, erschien sein Büro sehr hell. Die riesige Fensterfront und der helle Teppich trugen wohl dazu bei. Die Sonne schien in das Büro ohne zu blenden und machte den Raum sehr freundlich. Am Fenster war ein Schreibtisch so aufgestellt worden, dass der Besitzer auch beim Arbeiten die Aussicht genießen konnte. Der Schreibtisch war natürlich aus der gleichen dunklen Eiche und die weißen Schreibtischstühle ließen ihn noch edler wirken. Mir fiel nach ein paar Sekunden auf, dass mein Mund offen stand. Natürlich erst in dem Moment, als er die Tür geschlossen hatte und lächelnd an mir vorbeiging. Ich machte ihn schnell zu und nickte anerkennend.
„Wer sind Sie eigentlich? Der Bürgermeister dieser Stadt?“
„Höchstpersönlich! Darf ich mich vorstellen? Bürgermeister Lorenz Eichenschild.“
Jetzt klappte mir der Mund doch wieder auf und meine ganze Spucke rutschte mir in den Rachen und sammelte sich zu einem Kloß. War das sein Ernst? Ich sprach wirklich am zweiten Tag schon mit dem Bürgermeister und dann auch noch auf diese Art und Weise? Eigentlich hatte ich einen gesunden Respekt vor Autoritätspersonen. Aber bei ihm regte sich unnatürlicherweise wieder mein Trotz.
„Oh … na, dann sind Sie ja wirklich prädestiniert, alle meine Fragen zu beantworten.“
Ich wollte schon Luft holen, als er mich wieder mit diesem Tststs unterbrach.
„Von Fragen beantworten hat niemand gesprochen. Ich werde deine Neugier befriedigen und das auf meine Art.“
Er kam ganz nah zu mir und erst jetzt wurde mir die Doppeldeutigkeit dieses Satzes deutlich bewusst. Ich versuchte einen Schritt nach hinten auszuweichen, aber er ergriff meine Hand und zog mich einfach zu sich. Er hielt mich ein paar Herzschläge lang, laute Herzschläge, jedenfalls meine … und dann zog er mich zur Fensterfront weiter.
Mein Blick fiel hinaus auf eine atemberaubende Aussicht. Zum dritten Mal innerhalb von fünf Minuten konnte ich mein Staunen kaum verbergen. Der Blick reichte über die ganze Stadt. Alle Gebäude waren kleiner als das Rathaus und man konnte jede U-Bahnstation von hier aus sehen.
Er nickte und schien sich zu freuen, dass ich so beeindruckt war von dieser Aussicht.
„Ja, das ist die ganze Stadt. Als ich das Büro zum ersten Mal betrat, wusste ich, dass es meins werden musste. Ich liebe diese Aussicht und genieße sie jeden Tag. Aber deswegen habe ich dich nicht hergebracht, also nicht, weil die Aussicht schön ist. Sondern, weil man hier auch etwas genau zeigen kann. Siehst du die farbigen Flachdächer?“
Ja, ich sah sie. Um das Rathaus herum waren gelbe Dächer und auf der Straße gegenüber grüne und blaue. Die blauen Dächer ergaben eine zusammenhängende Form, fast wie ein Trapez. Die grünen Dächer waren unförmig, erinnerten aber an ein großes Rechteck mit ein paar Dellen darin.
„Das sind unsere Bezirke, auch Zonen genannt. Du wohnst im blauen Bezirk, nehme ich an.“
Ich nickte und nach einigem Suchen fand ich die U-Bahnstation, bei der ich eingestiegen war und zeigte vage in die Richtung.
„ Wir sind in der gelben Zone.“ Ich nickte wieder und wurde ungeduldig.
„Ich dachte, Sie erzählen mir etwas Neues. Das weiß ich schon.“
Er zog eine Augenbraue hoch.
„Und du weißt auch, was es mit den Zonen auf sich hat?“
Als ich schwieg, lächelte er zufrieden.
„ Es wäre die Aufgabe deines Buddys gewesen, dir das zu erklären. Wahrscheinlich hätte er es heute oder die nächsten Tage gemacht. Er konnte ja nicht ahnen, dass er so ein ungeduldiges Exemplar von einem Newbie betreuen muss.“
Wieder dieses Wort. Ich sah ihn an, verkniff mir aber die Frage, weil er ja gesagt hatte, er würde mir keine direkt beantworten. Er verstand meinen Blick und erklärte endlich den Begriff.
„Newbies heißen alle Neuankömmlinge, wie der Name schon sagt. Weil sie neu sind. Aber er hat noch eine andere Bedeutung. So werden auch die Unwissenden genannt. Manche nennen auch alle im blauen Bezirk so. Weil sie halt noch von nichts in der Stadt eine Ahnung haben.“
Ich schnaubte empört.
„Ist ja auch klar, wenn einem vorher niemand etwas sagt.“
Er nickte.
„Das ist aber pure Absicht. Es würde schlicht die meisten Leute überfordern. Diese Stadt tickt sehr viel anders als die im Rest des Landes. Es gibt sogar einige Gesetze, die hier nicht gelten, und andere Regeln sind dazu gekommen, damit diese besondere Stadt nicht aus dem Ruder läuft. Uns ist die Freiheit wichtig, aber wie du weißt, kommt man nicht so einfach in die Stadt. Auch nicht als Besucher. Ich nehme an, das wurde dir gesagt?“
„Ja, aber nicht, warum.“
„Alles zu seiner Zeit, Madam. Gab es schon Gerüchte, bevor du in die Stadt kamst?“
Jetzt wirkte er neugierig und ich fand diesen spitzbübischen Ausdruck und das Funkeln in seinen Augen fast schon niedlich.
„Ich muss Sie enttäuschen. Trotz meiner großen Neugier war ich viel zu beschäftigt damit, mein altes Leben komplett zu bereinigen und nichts mehr zurückzulassen. Und auch meine Spuren zu verwischen, sodass man mich nicht ausgerechnet hier sucht. Bis auf eine alte Kollegin, die mir diese Stadt empfohlen hat, weiß niemand, dass ich hierher kam. Das war so aufwendig, dass ich keine Zeit hatte, mich über Gerüchte schlau zu machen.“
Er wirkte nachdenklich nach meinen Worten.
„Schade, mich hätte interessiert, ob und was für Gerüchte dort draußen kursieren. Schließlich ist die Stadt ja doch schon ganz schön gewachsen und Geheimnisse bleiben bei vielen Menschen meistens nicht lange geheim. Wir haben ein ganzes Stockwerk hier, musst du wissen, das sich darum kümmert, die Presse in Schach zu halten und das Internet zu durchforsten. Wir wollen um Gottes Willen keine Zensur, aber eine Verzerrung der Wahrheit täte der Stadt nicht gut.“
Ich war verwirrter als vorher, doch er winkte ab.
„Politik. Also zurück zu den Zonen. Die blaue Zone ist also für die Neuankömmlinge und Unwissenden. Hier ist das Leben noch relativ normal, so wie du es aus deiner Stadt kennen wirst. Die gelbe Zone ist auch noch relativ harmlos. Wir leben hier aber schon unsere Freiheit und machen uns über moralische und ethische Verfehlungen keine so großen Gedanken.“
Diese Formulierung wälzte ich ein paarmal in meinem Kopf hin und her. Ich verstand sie trotzdem nicht und schaute ihn weiter fragend an.
Er grinste und trat wieder einen Schritt an mich ran. Er hob seine Hand und als ich dieses Mal nicht zurück wich, strich er mir die Schläfe hinunter bis an meinen Hals und zeichnete dann mein Brustbein nach. Dabei folgte sein Blick der Bewegung und am Ende sah er mir wieder in die Augen. Ich hielt dem Blick stand und er wirkte zufrieden.
„Zum Beispiel darüber, dass der Bürgermeister einen Newbie in sein Büro nimmt und ihn einfach streichelt, weil er wissen will, wie der Newbie sich anfühlt. Oder schmeckt.“
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