Ich sah sie voll Haß an. Sie stand auf und beugte sich plötzlich über mich:
»Anna Andrejewna hat mir besonders aufgetragen, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen«, flüsterte sie mir ganz leise zu, »und mir dringend aufgetragen, ich soll Sie bitten, gleich zu ihr zu kommen, sobald Sie nur ausgehen können. Leben Sie wohl! Werden Sie nur gesund, ich werde es ihr schon sagen . . .«
Sie ging. Ich setzte mich im Bette auf, der kalte Schweiß trat mir auf die Stirn, aber ich fühlte keinen Schrecken: die mir unbegreifliche, ungeheuerliche Nachricht über Lambert und seine Ränke zum Beispiel erschreckte mich durchaus nicht, wenn ich es mit dem vielleicht unsinnigen Entsetzen verglich, mit dem ich während meiner Krankheit und der ersten Tage meiner Genesung an meine Begegnung mit ihm in jener Nacht zurückgedacht hatte. Im Gegenteil, in jenem wirren ersten Augenblick, damals im Bette, gleich nachdem Darja Onisimowna gegangen war, hielt ich mich beim Gedanken an Lambert gar nicht auf, sondern . . . am meisten hatte mich die Nachricht über sie ergriffen, über ihren Bruch mit Bjoring, über das Glück, das sie in der Welt mache, über ihre Feste, ihren Erfolg, ihren »Glanz«. »Katerina Nikolajewna glänzt förmlich«, klangen mir Darja Onisimownas Worte in den Ohren. Und ich fühlte auf einmal, daß ich mit allen meinen Kräften nicht aus diesem Wirbel hinauskonnte, obgleich ich so stark gewesen war, zu schweigen und Darja Onisimowna nicht auszufragen, nachdem ich ihre sonderbaren Geschichten vernommen hatte. Ein unbezwinglicher Durst nach diesem Leben, nach dem Leben der andern hatte mein ganzes Inneres ergriffen und . . . und noch ein andrer wollüstiger Durst, der sich in meinem Gefühl bis zum höchsten Glück, bis zum quälendsten Schmerz steigerte. Meine Gedanken wirbelten gleichsam im Kreise, aber ich ließ sie wirbeln. »Was soll ich da groß überlegen!« sagte mein Gefühl. »Aber sogar Mama hat mir verschwiegen, daß Lambert da war,« dachte ich in zusammenhanglosen Gedankenbruchstücken, »das hat ihr Wersilow beigebracht, daß sie schweigen sollte . . . Und wenn ich sterben muß, ich frage Wersilow nicht nach Lambert!« – »Wersilow,« ging es mir wieder durch den Kopf, »Wersilow und Lambert, oh, wieviel Neues sich da angesponnen hat! Ein famoser Kerl, der Wersilow! Er hat diesem Deutschen, dem Bjoring, einen gesunden Schrecken eingejagt mit seinem Briefe; er hat sie verleumdet, la calomnie . . . il en reste toujours quelque chose, und dieser deutsche Höfling hat eine Heidenangst vor dem Skandal – hahaha . . . ihr ist's auch eine gute Lehre!« – »Lambert . . . hat sich Lambert nicht am Ende auch an sie heranmachen können? Kunststück! Warum sollte sie sich auch nicht mit ihm ›einlassen‹?«
Und dann schob ich auf einmal alle diese unsinnigen Gedanken beiseite und wühlte meinen Kopf verzweifelt in die Kissen. »Das kann ja nicht sein!« rief ich mit plötzlicher Entschlossenheit, sprang aus dem Bette, zog Pantoffeln und Schlafrock an und begab mich direkt in Makar Iwanowitschs Zimmer, als wäre da der Blitzableiter für alle Versuchungen, der Rettungsanker, an den ich mich klammern könnte.
In der Tat ist es möglich, daß ich diesen Gedanken damals aus tiefster Seele empfand; weshalb wäre ich denn sonst so unaufhaltsam und plötzlich aus dem Bette gesprungen und in dieser Gemütsverfassung zu Makar Iwanowitsch gerannt?
Aber bei Makar Iwanowitsch traf ich ganz wider Erwarten Besuch, – Mama und den Doktor. Weil ich beim Hinübergehen, Gott weiß warum, fest davon überzeugt gewesen war, daß ich den Alten, genau wie gestern, allein treffen würde, so blieb ich auf der Schwelle in stumpfer Verwunderung stehen. Aber ich hatte noch keine Zeit gehabt, ein ärgerliches Gesicht zu machen, als auch schon Wersilow erschien und hinter ihm plötzlich noch Lisa . . . Also hatte sich das ganze Haus bei Makar Iwanowitsch versammelt und gerade in einem Augenblick, wo es mir »gar nicht paßte«!
»Ich komme, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen«, sagte ich und ging direkt auf Makar Iwanowitsch zu.
»Ich danke dir schön, lieber Freund, ich hatte dich erwartet: ich wußte, daß du kommen würdest! Ich habe heute nacht an dich gedacht.«
Er blickte mir freundlich in die Augen, und ich konnte sehen, daß er mich wohl von allen Anwesenden am liebsten hatte, aber ich bemerkte auch gleich im ersten Augenblick und ganz unwillkürlich, daß sein Gesicht zwar heiter war, aber daß seine Krankheit trotzdem während der Nacht Fortschritte gemacht hatte. Der Doktor hatte ihn gerade vorher sehr gründlich untersucht. Ich erfuhr später, daß dieser Doktor (derselbe junge Mensch, mit dem ich mich so gezankt hatte und in dessen Behandlung Makar Iwanowitsch vom Tage seiner Ankunft an war), – daß der Doktor diesem Patienten große Aufmerksamkeit widmete und, – ich weiß die medizinischen Fachausdrücke nicht – kurz und gut, er hatte eine ganze Kombination von allerlei Krankheiten in ihm entdeckt. Makar Iwanowitsch stand schon, das sah ich auf den ersten Blick, in den engsten freundschaftlichen Beziehungen zu ihm; mir gefiel das gleich nicht; und im übrigen war ich in dem Augenblick natürlich überhaupt nicht sehr angenehm aufgelegt.
»Ja, Alexander Semionowitsch, wie geht es denn heute unserm lieben Patienten?« erkundigte sich Wersilow. Wenn ich nicht so aufgeregt gewesen wäre, so hätte ich nichts Wichtigeres zu tun gehabt, als furchtbar neugierig die Art des Verkehrs zwischen Wersilow und dem alten Manne zu beobachten, worüber ich mir auch schon tags vorher allerhand Gedanken gemacht hatte. Vor allem überraschte mich jetzt Wersilows ungewöhnlich weicher und liebenswürdiger Gesichtsausdruck, der etwas durchaus Aufrichtiges hatte. Ich glaube, ich habe es schon einmal irgendwo gesagt, daß Wersilows Gesicht überraschend schön werden könnte, sobald er sich nur halbwegs ungekünstelt gab.
»Ja, wir zanken uns in einem fort«, erwiderte der Doktor.
»Mit Makar Iwanowitsch? Das kann ich nicht glauben: mit ihm kann man sich gar nicht zanken.«
»Er gehorcht ja nicht: nachts will er nicht schlafen . . .«
»Na, hör' schon auf, Alexander Semionowitsch, und schimpf nicht so viel«, lachte Makar Iwanowitsch. »Na, wie ist's, Andrej Petrowitsch; wie ist die Sache mit unsrer Mamsell ausgegangen? – Sie ächzt und stöhnt schon den ganzen Morgen und ist in solcher Unruhe«, fügte er hinzu und zeigte auf Mama.
»Ach ja, Andrej Petrowitsch,« rief Mama, in der Tat sehr beunruhigt, »erzähle nur schnell und quäle uns nicht lange; wie ist es für die Ärmste ausgegangen?«
»Ja, man hat unsre Mamsell verurteilt!«
»Ach!« rief Mama.
»Ja, aber nach Sibirien kommt sie nicht, sei nur ganz unbesorgt – fünfzehn Rubel Strafe muß sie zahlen, weiter nichts; es war das reine Theater!«
Er setzte sich, auch der Doktor nahm Platz. Ihr Gespräch bezog sich auf Tatjana Pawlowna, und ich wußte noch gar nichts von dieser Geschichte. Ich saß links von Makar Iwanowitsch, Lisa hatte sich mir gegenüber zu seiner Rechten niedergelassen; sie trug sich sichtlich mit einem eignen, besondern, neuen Kummer und hatte auch wohl eben deswegen Mama aufgesucht; ihr Gesicht zeigte einen unruhigen, erregten Ausdruck. In diesem Moment wechselten wir ganz zufällig einen Blick, und ich dachte plötzlich bei mir: »Wir sind beide beschimpft, und ich muß den ersten Schritt zu einer Annäherung tun.« Mein Herz wurde ihr gegenüber plötzlich weich. Wersilow begann derweil von den Ereignissen des heutigen Morgens zu erzählen.
Die Sache war die, daß Tatjana Pawlowna an jenem Morgen einen Prozeß mit ihrer Köchin vor dem Friedensgericht gehabt hatte. Es war eine höchst alberne Geschichte; ich habe schon erwähnt, daß die boshafte Finnin zuweilen, wenn sie sich geärgert hatte, wochenlang schweigen konnte; sie antwortete dann auf alle Fragen ihrer Herrin nicht ein einziges Wort; ich habe auch schon von Tatjana Pawlownas Schwäche ihr gegenüber erzählt, und daß sie sich von ihr alles gefallen ließ und sie um keinen Preis ein für allemal an die Luft setzen wollte. Alle diese psychologischen Kaprizen bei alten Jungfern und alten Weibern überhaupt erscheinen mir im höchsten Grade verächtlich und durchaus nicht weiter beachtenswert, und wenn ich die Geschichte hier dennoch erwähne, so geschieht es nur, weil diese Köchin später, im weitern Verlaufe meiner Erzählung, noch eine nicht unwichtige und ziemlich verhängnisvolle Rolle spielen wird. Na also, schließlich war eines schönen Tages Tatjana Pawlowna die Geduld gerissen und sie hatte der eigensinnigen Finnin eine Ohrfeige gegeben, was früher noch nie passiert war. Die Finnin hatte auch daraufhin nicht den leisesten Laut von sich gegeben, aber sie hatte sich noch an demselben Tage mit einem Herrn in Verbindung gesetzt, der in demselben Hinterhaus wohnte, irgendwo in einem Loch im Erdgeschosse; das war ein Marineleutnant außer Diensten, namens Osiotrow, der sich mit allerhand Vertretungen vor Gericht befaßte und selbstverständlich immer gleich zum Prozeß zu hetzen pflegte: schlug er sich doch auf die Weise notdürftig durchs Leben. Das Ende vom Liede war, daß Tatjana Pawlowna vor den Friedensrichter geladen wurde, und Wersilow hatte als Zeuge zur Feststellung des Tatbestandes gleichfalls erscheinen müssen.
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