»Du solltest Lisa auch nicht vergessen; du hast Lisa vergessen.«
Sie sagte das hastig, wurde rot dabei und wollte schnell davoneilen, denn sie liebte es gar nicht, aber auch gar nicht, Gefühle breitzutreten; und in der Beziehung war sie genau wie ich, das heißt, zurückhaltend und keusch; außerdem natürlich wollte sie auch nicht mit mir von dem Thema Makar Iwanowitsch anfangen; es war genug daran, was wir uns gegenseitig mit unsern Blicken sagen konnten. Aber ich, ich, der jedes Breittreten von Gefühlen haßt, ich hielt sie mit Gewalt am Arme zurück: ich sah ihr freundlich in die Augen, lachte still und zärtlich und streichelte mit der andern Hand ihr liebes Gesicht, ihre eingefallenen Wangen. Sie beugte sich über mich und preßte ihre Stirn gegen meine:
»Christus beschirme dich,« sagte sie und richtete sich plötzlich auf, mit strahlendem Gesicht, »werd' nur gesund! das vergesse ich dir nicht. Er ist krank, sehr krank . . . Gott ist der Herr über Leben und Tod . . . Ach, was sage ich da, das kann ja gar nicht sein! . . .«
Sie ging hinaus. Sie hat ihren ehelichen Mann, den Pilger Makar Iwanowitsch schon wirklich ihr Leben lang verehrt, in Furcht und Zittern und in Andacht, ihn, der ihr so großmütig, und ein für allemal verziehen hatte.
Lisa aber hatte ich durchaus nicht »vergessen«; Mama täuschte sich. Die Mutter hatte mit feinem Gefühl empfunden, daß zwischen Bruder und Schwester eine Art Abkühlung eingetreten war; aber das lag nicht an einem Mangel an Liebe, sondern eher an Eifersucht. Das will ich, da es für das Folgende nötig sein dürfte, mit zwei Worten näher erklären.
Die arme Lisa zeigte, seitdem der Fürst verhaftet war, eine Art anmaßenden Stolz, eine Art abweisenden Hochmut, der beinah unerträglich war; aber jedermann im Hause verstand die Wahrheit und begriff, wie sie litt; und wenn ich mich anfangs über ihre Art uns gegenüber aufhielt und ärgerte, so lag das nur an meiner kleinlichen Empfindlichkeit, die die Krankheit noch verzehnfacht hatte, – so denke ich heute darüber. Daß ich Lisa deshalb nicht mehr liebgehabt hätte, war durchaus nicht der Fall, im Gegenteil, ich liebte sie nur noch mehr, ich wollte nur nicht der erste sein, der sich näherte, obgleich ich freilich genau wußte, daß sie um keinen Preis den ersten Schritt tun würde.
Die Sache war die, daß Lisa, sobald die ganze Geschichte mit dem Fürsten an die Öffentlichkeit gedrungen war, sogleich, nachdem er verhaftet war, nichts Eiligeres zu tun wußte, als sich uns und allen andern gegenüber auf einen Standpunkt zu stellen, als wolle sie den Gedanken schon im Keime ersticken, daß man sie am Ende bedauern oder die Absicht haben könnte, sie zu trösten und den Fürsten in Schutz zu nehmen, Im Gegenteil, – sie nahm sich dabei durchaus nicht die Mühe, sich mit irgend jemand auszusprechen oder zu streiten, – aber sie ging gleichsam in einem ewigen Stolze über die Tat ihres unglücklichen Bräutigams herum, als wäre sie das höchste Heldenstück. Sie sagte gleichsam in jedem Augenblick zu uns allen (ich wiederhole es noch einmal: ohne je ein Wort davon laut werden zu lassen): »Von euch brächte das doch niemand zustande, – ihr denunziert euch nicht selber aus Ehr- und Pflichtgefühl, von euch hat keiner ein so zartes und reines Gewissen. Und seine Vergehen? Wer hat denn keine schlechten Handlungen auf dem Gewissen? Aber andere verstecken sie ängstlich; dieser Mensch hingegen wollte lieber sich selbst zugrunde richten, als in seinen eignen Augen als ein Unwürdiger dastehen.« Das war es ungefähr, was jede Gebärde von ihr auszudrücken schien. Ich weiß nicht, aber ich hätte an ihrer Stelle wohl genau so gehandelt. Ich weiß auch nicht, ob sie eben diese Gedanken in sich herumtrug, das heißt, wenn sie sich selber ganz aufrichtig fragte; ich glaube eigentlich nicht. Mit der andern, klaren Hälfte ihres Verstandes mußte sie sicherlich die ganze Unbedeutenheit ihres »Helden« durchschauen; denn wer würde mir heute nicht darin beistimmen, daß dieser unglückliche und in seiner Art vielleicht sogar großherzige Mensch zu gleicher Zeit ein äußerst unbedeutender Mensch war? Gerade auch ihre hochmütige und aggressive Art uns allen gegenüber, ihr ewiges Mißtrauen, daß wir anders über ihn denken könnten, – eben das ließ einen zum Teil erraten, daß sich in den geheimsten Tiefen ihres Herzens wohl ein andres Urteil über ihren unglücklichen Freund gebildet haben mochte. Ich will dazu aber gleich bemerken, freilich nur als meine ganz persönliche Ansicht, daß sie, wie ich die Sache ansehe, wenigstens zur Hälfte tatsächlich im Recht war; ihr konnte man es eher verzeihen als uns andern allen, wenn sie vor der letzten Schlußfolgerung schwankte. Ich selbst bekenne aus tiefstem Herzensgrunde, daß ich auch heute noch, wo das alles schon weit hinter mir liegt, durchaus nicht weiß, wie und als was ich diesen Unglücklichen einschätzen soll, der uns allen solch ein Rätsel aufgegeben hat.
Nichtsdestoweniger machte sie aus unserm Hause fast eine kleine Hölle. Lisa, die so stark liebte, mußte auch sehr schwer leiden. Ihrem Charakter gemäß zog sie es vor, schweigend zu leiden. Ihr Charakter glich dem meinen, das heißt, er war selbstherrlich und stolz, und ich war immer der Ansicht, damals wie jetzt, daß sie den Fürsten aus Selbstherrlichkeit liebgewonnen hatte, eben weil er keinen Charakter hatte, und weil er sich ihr vom ersten Worte und von der ersten Stunde an gänzlich unterworfen hatte. So etwas entsteht in einem Herzen ganz von selbst, ohne jede vorhergehende Überlegung; aber solch eine Liebe, eine starke Liebe zu einem Schwachen, ist manchmal unvergleichlich stärker und qualvoller als die Liebe zwischen gleichgearteten Charakteren, weil man unwillkürlich die Verantwortlichkeit für seinen schwachen Genossen mit auf sich nimmt. Ich wenigstens denke mir das so. Alle unsre Angehörigen umgaben sie von Anfang an mit zärtlichster Sorgfalt, besonders Mama; aber sie wurde nicht weicher, sie antwortete nicht auf die Teilnahme und stieß gleichsam jede Hilfe zurück. Mit Mama hatte sie anfangs noch gesprochen, aber von Tag zu Tag wurde sie wortkarger, kürzer angebunden und sogar härter. Mit Wersilow hatte sie anfangs Rats gepflogen, aber sehr bald erkor sie sich als Ratgeber und Helfer Herrn Wasin, wie ich später zu meiner Verwunderung vernahm . . . Sie besuchte Wasin täglich, sie lief auf den Gerichten herum, ging zu den Vorgesetzten des Fürsten, zu den Advokaten, zum Staatsanwalt; schließlich sah man sie daheim oft ganze Tage nicht. Selbstverständlich besuchte sie auch täglich, und zwar zweimal, den Fürsten, der im Gefängnis saß, in der adligen Abteilung; aber diese Besuche waren, wie ich mich in der Folge überzeugte, für Lisa sehr schwere Stunden. Natürlich, welcher Dritte kann das Verhältnis zwischen zwei Liebenden ganz durchschauen? Aber ich weiß, daß der Fürst sie in jedem Augenblick, da sie bei ihm war, tief kränkte; und wodurch? Das ist eine merkwürdige Sache: durch ewige Eifersucht. Darauf komme ich übrigens später noch zurück; aber einen Gedanken möchte ich gleich hier anfügen: es ist schwer, mit Sicherheit zu sagen, wer von ihnen den andern mehr quälte. Denn wenn Lisa sich uns gegenüber auch mit ihrem Helden brüstete, so verhielt sie sich doch ihm gegenüber, unter vier Augen, vielleicht ganz anders; davon bin ich mit ziemlicher Sicherheit überzeugt, nach einigen Anzeichen, von denen übrigens auch erst später die Rede sein wird.
Also, was meine Gefühle für Lisa und meine Beziehungen zu ihr angeht, so kann ich sagen, daß alles, was zutage lag, nur eine äußerlich vorgegebne, eifersüchtige Lüge von beiden Seiten war; geliebt aber haben wir beide uns gegenseitig nie stärker als zu der Zeit. Ich möchte noch bemerken, daß Lisa sich Makar Iwanowitsch gegenüber beinahe geringschätzig, ja hochmütig benahm, vom ersten Augenblick an, sobald er unser Haus betreten hatte, und nachdem die erste Verwunderung und Neugier vergangen war.
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