Fjodor M Dostojewski
Ein Werdender - Zweiter Band
Übersezt von Korfiz Holm
Übertragen von H. Röhl
Saga
Ein Werdender - Zweiter Band
Übersezt von Korfiz Holm
Titel der Originalausgabe: Podrostok
Originalsprache: Russischen
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1975, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726981315
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
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Die Nacht
Es vergingen acht Tage. Jetzt, wo alles vorüber ist und ich diese Geschichte niederschreibe, wissen wir bereits, wie alles zusammenhing; aber damals wußten wir noch nichts, und es war nur natürlich, daß uns manche Dinge sonderbar erschienen. Wir beide, Stepan Trofimowitsch und ich, zogen uns in der ersten Zeit ganz zurück und beobachteten angstvoll von weitem. Ich allerdings unternahm doch einige wenige Ausgänge und brachte ihm wie früher allerlei Nachrichten mit, ohne die er nun einmal nicht existieren konnte.
Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß in der Stadt die mannigfachsten Gerüchte im Umlauf waren: über die Ohrfeige, über Lisaweta Nikolajewnas Ohnmacht und über die übrigen Ereignisse jenes Sonntags. Aber eines setzte uns dabei in Erstaunen: durch wen hatte dies alles mit solcher Schnelligkeit und mit solchen Einzelheiten in die Öffentlichkeit dringen können? Man hätte meinen sollen, keine der damals anwesenden Personen konnte ein Bedürfnis verspüren oder es für vorteilhaft halten, das Geheimnis des Vorgefallenen bekanntzugeben. Dienerschaft war nicht dabei gewesen; nur Lebjadkin hätte einiges ausplaudern können, nicht sowohl aus Bosheit (denn er war damals in größter Angst weggegangen, und durch die Furcht vor dem Feinde wird auch die Bosheit vernichtet, von der man gegen ihn erfüllt ist), sondern einzig und allein aus Schwatzhaftigkeit. Aber Lebjadkin war mitsamt seiner Schwester gleich am andern Tage spurlos verschwunden: im Filippowschen Hause war er nicht vorhanden; er war weggezogen, niemand wußte wohin; er war wie verschollen. Schatow, bei dem ich mich nach Marja Timofejewna erkundigen wollte, hatte sich eingeschlossen und saß, wie es schien, diese ganzen acht Tage in seiner Wohnung; er hatte sogar seine Beschäftigungen in der Stadt unterbrochen. Mich ließ er nicht zu sich herein. Ich ging am Dienstag hin und klopfte an die Tür. Ich erhielt keine Antwort; da ich aber aus untrüglichen Anzeichen davon überzeugt war, daß er zu Hause sei, so klopfte ich zum zweitenmal. Da sprang er anscheinend vom Bette auf, kam mit kräftigen Schritten zur Tür und rief mir aus voller Kehle zu: »Schatow ist nicht zu Hause.« Mit diesem Bescheide mußte ich wieder fortgehen.
Stepan Trofimowitsch und ich blieben schließlich bei einem bestimmten Gedanken stehen; allerdings schien uns diese Annahme gewagt, aber wir bestärkten uns gegenseitig darin: wir gelangten nämlich zu der Überzeugung, der Urheber der umlaufenden Gerüchte könne niemand anders sein als Peter Stepanowitsch, obgleich er selbst einige Zeit nachher in einem Gespräche mit seinem Vater versicherte, er habe die Geschichte bereits in aller Leute Munde gefunden, namentlich auch im Klub; auch der Frau Gouverneur und ihrem Gatten sei sie schon bis auf die kleinsten Einzelheiten vollständig bekannt gewesen. Merkwürdig war aber auch noch dies: gleich am nächsten Tage, Montag abend, traf ich Liputin, und er wußte bereits alles bis auf das letzte Wort, hatte es also offenbar aus erster Hand erfahren.
Viele Damen, auch solche, die den höchsten Kreisen angehörten, erkundigten sich neugierig nach der »rätselhaften Lahmen«, wie sie Marja Timofejewna nannten. Es fanden sich sogar einige, die sie durchaus selbst sehen und ihre Bekanntschaft machen wollten, so daß die Herren, die sich beeilt hatten, das Geschwisterpaar Lebjadkin unsichtbar zu machen, offenbar richtig verfahren waren. Aber im Vordergrunde stand doch Lisaweta Nikolajewnas Ohnmacht; dafür interessierte sich die ganze vornehme Gesellschaft, schon deswegen, weil die Sache Julija Michailowna als Lisaweta Nikolajewnas Verwandte und Patronin direkt anging. Und was wurde nicht alles zusammengeredet! Dem Gerede gab auch noch ein geheimnisvoller Umstand Nahrung: beide Häuser waren fest verschlossen; Lisaweta Nikolajewna lag, wie man erzählte, an einem heftigen Nervenfieber krank; dasselbe wurde auch über Nikolai Wsewolodowitsch behauptet, mit widerwärtigen Einzelheiten über einen ihm angeblich ausgeschlagenen Zahn und über seine geschwollene Backe. In verschwiegenen Ecken sprach man sogar davon, es werde bei uns vielleicht ein Mord stattfinden; Stawrogin sei nicht der Mann, der eine solche Beleidigung hinnähme; er werde Schatow töten, aber insgeheim, wie bei der korsischen Blutrache. Dieser Gedanke gefiel vielen; aber die Mehrzahl unserer vornehmen jungen Männer hörte das alles mit Nichtachtung und mit einer Miene geringschätziger, natürlich erkünstelter, Gleichgültigkeit an. Überhaupt trat die alte Feindschaft unserer Gesellschaft gegen Nikolai Wsewolodowitsch wieder klar zu Tage. Sogar gesetzte Leute suchten ihm die Schuld zuzuschieben, obwohl sie nicht wußten, die Schuld woran. Flüsternd erzählte man sich, er habe Lisaweta Nikolajewna die Ehre geraubt und es habe zwischen ihnen in der Schweiz eine Intrige gespielt. Allerdings verhielten sich vorsichtige Leute dabei reserviert; aber doch hörten alle es mit Genuß an. Es gab auch noch andere Darstellungen, die aber nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur im Privatverkehr, nur spärlich und beinah im Verborgenen geäußert wurden, äußerst seltsame Darstellungen, deren Vorhandensein ich nur im Hinblick auf die weiteren Ereignisse meiner Erzählung erwähne, um die Leser vorzubereiten. Manche sagten nämlich mit finster zusammengezogenen Augenbrauen und Gott weiß auf welcher Grundlage, Nikolai Wsewolodowitsch habe ein besonderes Geschäft in unserm Gouvernement; er sei durch den Grafen K*** mit hochgestellten Männern in Petersburg in Beziehung gekommen; er sei vielleicht sogar angestellt und von irgend jemand mit irgendwelchen Aufträgen betraut. Und als sehr gesetzte, besonnene Leute über dieses Gerücht lächelten und verständig bemerkten, daß ein Mensch, der fortwährend Skandalgeschichten veranlasse und sich bei uns mit einer geschwollenen Backe eingeführt habe, einem Beamten nicht sehr ähnlich sei, da erwiderte man ihnen flüsternd, er sei ja auch nicht offiziell angestellt, sondern sozusagen konfidentiell, und in einem solchen Falle erfordere der Dienst gerade, daß der Angestellte mit einem Beamten möglichst wenig Ähnlichkeit habe. Dieses Argument verfehlte seine Wirkung nicht; man wußte bei uns, daß die Regierung in der Hauptstadt unseren Landständen eine besondere Aufmerksamkeit zuwende. Ich wiederhole, daß diese Gerüchte nur flüchtig auftauchten und nach kurzer Zeit, bei Nikolai Wsewolodowitschs erstem Wiedererscheinen, spurlos wieder verschwanden; aber ich bemerke, daß die Ursache vieler Gerüchte einige kurze, aber boshafte Äußerungen waren, die der unlängst aus Petersburg zurückgekehrte Gardehauptmann a. D. Artemi Petrowitsch Gaganow in undeutlicher, wortkarger Manier im Klub hatte fallen lassen. Es war dies ein sehr großer Gutsbesitzer unseres Gouvernements und Kreises, ein Angehöriger der vornehmen Gesellschaft der Residenz und ein Sohn des verstorbenen Peter Pawlowitsch Gaganow, eben jenes hochangesehenen Klubvorstehers, mit welchem Nikolai Wsewolodowitsch vor mehr als vier Jahren das durch seine Unmanierlichkeit und Plötzlichkeit überraschende Rencontre gehabt hatte, das ich bereits oben, am Anfange meiner Erzählung, erwähnt habe.
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