»Ja? Ich hatte ihn nicht verstanden; ich wollte Sie danach fragen. Nun, was hatte ich doch noch für Sie? Ja: interessant ist die Fabrik der Gebrüder Schpigulin; es sind darin, wie Sie wissen, fünfhundert Arbeiter beschäftigt; die Fabrik ist ein richtiger Choleraherd; seit fünfzehn Jahren ist sie nicht gereinigt worden; die Arbeiter werden an ihrem Lohn verkürzt; die Besitzer sind Millionäre. Ich versichere Ihnen, daß unter den Arbeitern manche einen Begriff von der Internationale haben. Sie lächeln? Nun, Sie werden selbst sehen; lassen Sie mir nur noch ein ganz, ganz klein bißchen Zeit! Ich habe Sie schon einmal um Frist gebeten und bitte jetzt wieder darum; aber dann ... Übrigens, Pardon, ich werde nicht weiter davon reden; runzeln Sie nicht die Stirn! Nun adieu! Aber was mache ich nur!« fügte er, plötzlich wieder umkehrend, hinzu. »Ich habe ja gerade die Hauptsache vergessen: es wurde mir soeben gesagt, unsere Kiste aus Petersburg sei angekommen.«
»Was meinen Sie?« fragte Nikolai Wsewolodowitsch, ihn verständnislos anblickend.
»Ich meine Ihre Kiste mit Ihren Sachen, den Fracks, den Beinkleidern und der Wäsche; ist sie angekommen? Wirklich?«
»Ja, es wurde mir vorhin so etwas gesagt.«
»Ach, also ist es für den Augenblick nicht möglich ...«
»Fragen Sie Alexei!« .
»Nun, wie ist es mit morgen? Es ist ja neben Ihren Sachen auch einiges von mir darin: ein Jackett, ein Frack und drei Paar Beinkleider, die ich mir auf Ihre Empfehlung hin bei Scharmer habe machen lassen; erinnern Sie sich?«
»Ich habe gehört, daß Sie hier den Gentleman spielen,« bemerkte Nikolai Wsewolodowitsch lächelnd. »Ist das wahr, daß Sie bei einem Stallmeister Reitstunde nehmen wollen?«
Peter Stepanowitsch verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln.
»Wissen Sie,« sagte er dann außerordentlich schnell, aber mit wiederholt stockender Stimme, »wissen Sie, Nikolai Wsewolodowitsch, wir wollen doch ein für allemal alles Persönliche beiseite lassen, nicht wahr? Sie können mich natürlich verachten, soviel wie es Ihnen beliebt, wenn ich Ihnen so lächerlich vorkomme; aber doch wäre es das Beste, wenn wir eine Zeitlang Persönliches im Gespräche vermieden, nicht wahr?«
»Gut, ich werde es nicht wieder tun,« erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch.
Peter Stepanowitsch lächelte, schlug sich mit dem Hute auf das Knie, trat von dem einen Fuß auf den andern und nahm wieder seine frühere Miene an.
»Hier halten mich manche Leute sogar für Ihren Nebenbuhler bei Lisaweta Nikolajewna; wie sollte ich da nicht auf mein Äußeres bedacht sein?« sagte er lachend. »Wer hat Ihnen das aber nur zugetragen? Hm, gerade acht Uhr; nun, dann will ich mich auf den Weg machen; ich habe allerdings versprochen, noch zu Warwara Petrowna heranzugehen; aber ich werde es lassen. Sie aber sollten sich ins Bett legen; dann wird Ihnen morgen besser sein. Draußen regnet es, und es ist dunkel; ich habe übrigens eine Droschke vor der Tür, weil es auf den Straßen hier nachts nicht sicher ist ... Ach, da fällt mir noch ein: hier in der Stadt und in der Umgegend treibt sich jetzt ein gewisser Fedka umher, ein entlaufener Sträfling aus Sibirien, denken Sie sich nur, ein früherer Gutsknecht von mir, den mein Papa vor etwa fünfzehn Jahren für Geld unter die Soldaten steckte. Eine sehr bemerkenswerte Persönlichkeit.«
»Haben Sie ... haben Sie mit ihm gesprochen?« fragte Nikolai Wsewolodowitsch, ihn scharf anblickend.
»Ja. Vor mir verbirgt er sich nicht. Er ist zu allem bereit, zu allem; selbstverständlich für Geld; aber er hat auch eigene Überzeugungen, in seiner Art natürlich. Ach ja, noch einmal apropos: wenn Sie vorhin im Ernst von dieser Absicht gesprochen haben (Sie erinnern sich: in betreff Lisaweta Nikolajewnas), so wiederhole ich Ihnen noch einmal, daß auch ich zu allem bereit bin, in jeder Art, in der es Ihnen gefällig ist, und daß ich vollständig zu Ihren Diensten stehe ... Was heißt das? Sie greifen nach dem Stocke? Ach nein, ich habe mich geirrt. Denken Sie nur, mir schien es, als ob Sie nach dem Stocke suchten!«
Nikolai Wsewolodowitsch hatte nichts gesucht und sagte nichts, stand aber tatsächlich auf einmal mit einer eigentümlichen Bewegung im Gesichte auf.
»Und wenn Sie auch in bezug auf Herrn Gaganow irgend etwas nötig haben sollten,« platzte Peter Stepanowitsch plötzlich heraus und deutete dabei geradezu mit dem Kopfe auf den Briefbeschwerer hin, »so kann ich selbstverständlich alles arrangieren und bin überzeugt, daß Sie mich nicht übergehen werden.«
Er ging schnell hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten, schob aber den Kopf noch einmal durch die Türspalte.
»Ich bin der Ansicht,« rief er eilig, »daß auch Schatow nicht berechtigt war, sein Leben aufs Spiel zu setzen, damals am Sonntag, als er zu Ihnen herantrat, nicht wahr? Es wäre mir lieb, wenn Sie das beachteten.«
Er verschwand wieder, ohne eine Antwort abzuwarten.
Vielleicht dachte er, während er verschwand, daß Nikolai Wsewolodowitsch jetzt, wo er allein zurückgeblieben sei, anfangen werde, mit den Fäusten gegen die Wand zu schlagen, und er hätte sich gewiß gefreut, das anzusehen, wenn es möglich gewesen wäre. Aber er hätte sich sehr getäuscht gesehen. Nikolai Wsewolodowitsch blieb ruhig. Etwa zwei Minuten lang stand er noch in derselben Haltung am Tische, anscheinend in Gedanken versunken; aber dann wurde ein mattes, kaltes Lächeln auf seinen Lippen sichtbar. Er setzte sich langsam auf das Sofa, auf seinen früheren Platz in der Ecke und schloß wie vor Müdigkeit die Augen. Die Ecke des Briefes schaute wie vorher unter dem Briefbeschwerer hervor; aber er rührte sich nicht, um das in Ordnung zu bringen.
Bald schwand ihm das Bewußtsein vollständig. Warwara Petrowna, die sich diese Tage über mit schweren Sorgen gequält hatte, konnte es nicht länger ertragen, und nach Peter Stepanowitschs Weggehen, der zwar zu ihr heranzukommen versprochen, aber sein Versprechen nicht gehalten hatte, wagte sie es trotz der ungeeigneten Stunde, Nikolai selbst zu besuchen. Sie hatte immer eine unbestimmte Hoffnung, er werde ihr endlich doch etwas Definitives sagen. Leise, wie kurz zuvor, klopfte sie an die Tür und öffnete, da sie keine Antwort erhielt, sie wieder selbst. Da sie sah, daß Nikolai völlig regungslos dasaß, ging sie mit stark schlagendem Herzen vorsichtig näher an das Sofa heran. Es befremdete sie, daß er so bald eingeschlafen war, und daß er in dieser Haltung schlafen konnte, so gerade und so unbeweglich dasitzend; selbst das Atmen war kaum wahrnehmbar. Das Gesicht war blaß und finster, aber ganz unbeweglich, wie erstarrt; die Augenbrauen ein wenig zusammengezogen; er hatte eine entschiedene Ähnlichkeit mit einer leblosen Wachsfigur. Die Mutter stand ungefähr drei Minuten lang über ihn gebeugt da; sie wagte kaum zu atmen und wurde plötzlich von Angst befallen; sie ging auf den Zehen hinaus, blieb schnell noch in der Tür stehen, bekreuzte ihn und entfernte sich unbemerkt, mit einem neuen, schweren Gefühl des Kummers.
Er schlief lange, über eine Stunde, und die ganze Zeit über in demselben Zustande der Erstarrung: kein Muskel seines Gesichtes zuckte, und an seinem ganzen Körper war nicht die geringste Bewegung wahrzunehmen; die Augenbrauen blieben immer in gleicher Weise finster zusammengezogen. Wäre Warwara Petrowna noch drei Minuten länger geblieben, so würde sie das bedrückende Gefühl, das diese lethargische Unbeweglichkeit hervorrief, sicherlich nicht ertragen und ihn geweckt haben. Aber plötzlich öffnete er von selbst die Augen und blieb wie vorher, ohne sich zu rühren, noch etwa zehn Minuten sitzen; es schien, als blicke er neugierig und beharrlich nach einem ihn interessierenden Gegenstande in der Zimmerecke hin, obgleich da überhaupt nichts Neues und Besonderes vorhanden war.
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