Endlich ertönte der leise, tiefe Klang der großen Wanduhr, welche einen Schlag tat. Mit einer gewissen Unruhe drehte er den Kopf herum, um nach dem Zifferblatte zu sehen; aber fast in demselben Augenblicke öffnete sich eine nach dem Korridor hinausführende Hintertür, und es erschien der Kammerdiener Alexei Jegorowitsch. Er trug in der einen Hand einen warmen Überzieher, einen Schal und einen Hut, in der andern einen silbernen Teller, auf dem ein Zettel lag.
»Es ist halb zehn Uhr,« sagte er leise, legte die mitgebrachten Garderobenstücke in einer Ecke auf einen Stuhl und präsentierte auf dem Teller den Zettel, ein kleines unversiegeltes Blättchen, auf dem zwei Zeilen mit Bleistift geschrieben standen.
Nachdem Nikolai Wsewolodowitsch diese Zeilen gelesen hatte, nahm er ebenfalls einen Bleistift vom Tisch, schrieb am unteren Ende des Zettels zwei Worte und legte ihn wieder auf den Teller.
»Gib ihn ab, sowie ich weggegangen bin; jetzt will ich mich anziehen,« sagte er und erhob sich vom Sofa.
Da ihm einfiel, daß er ein leichtes Samtjackett anhatte, so überlegte er einen Augenblick und ließ sich dann einen anderen Rock reichen, einen Tuchrock, wie man ihn bei förmlicheren Abendgesellschaften trägt. Nachdem er sich endlich ganz angekleidet und den Hut aufgesetzt hatte, verschloß er diejenige Tür, durch die Warwara Petrowna zu ihm hereingekommen war, nahm unter dem Briefbeschwerer den versteckten Brief hervor und ging, von Alexei Jegorowitsch begleitet, schweigend auf den Korridor hinaus. Von dem Korridor stiegen sie eine schmale, steinerne Hintertreppe hinab und gelangten in einen Flur, der unmittelbar in den Garten hinausführte. In einer Ecke des Flures standen eine Laterne und ein großer Regenschirm bereit.
»Infolge des starken Regens ist auf den hiesigen Straßen ein unerträglicher Schmutz,« berichtete Alexei Jegorowitsch; er machte damit einen letzten bescheidenen Versuch, den jungen Herrn von seinem Ausgange zurückzuhalten.
Aber dieser spannte den Schirm auf und trat schweigend in den nassen alten Garten hinaus, wo es so dunkel war wie in einem Keller. Der Wind brauste und schüttelte die Wipfel der halbkahlen Bäume; die schmalen, mit Sand beschütteten Steige waren morastig und glitschig. Alexei Jegorowitsch ging so, wie er war, im Frack und ohne Hut, und erleuchtete mit der Laterne den Weg voraus auf eine Entfernung von drei Schritten.
»Wird es auch niemand bemerken?« fragte Nikolai Wsewolodowitsch.
»Aus den Fenstern ist es nicht zu sehen; zudem habe ich alle Vorsorge getroffen,« antwortete der Diener leise und gemessen.
»Schläft meine Mutter?«
»Die gnädige Frau haben sich nach Gewohnheit der letzten Tage Punkt neun Uhr eingeschlossen und können jetzt nichts wahrnehmen. Zu welcher Stunde befehlen Sie mir, Sie zu erwarten?« fügte er hinzu, indem er es wagte, selbst eine Frage zu stellen.
»Um eins, halb zwei, jedenfalls nicht später als um zwei.«
»Zu Befehl.«
Sie durchschritten auf gewundenen Wegen den ganzen Garten, den sie beide genau kannten, gelangten zu der steinernen Gartenmauer und fanden hier ganz in der Ecke ein kleines Pförtchen, das auf eine schmale, stille Gasse hinausführte und fast immer verschlossen war, dessen Schlüssel sich aber jetzt in Alexei Jegorowitschs Hand befand.
»Wird die Tür auch nicht knarren?« erkundigte sich Nikolai Wsewolodowitsch wieder.
Aber Alexei Jegorowitsch meldete, er habe sie noch gestern geölt, »und ebenso heute«. Er war schon ganz durchnäßt. Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, reichte er Nikolai Wsewolodowitsch den Schlüssel hin.
»Wenn Sie einen weiten Weg zu unternehmen belieben, so melde ich, daß ich dem hiesigen geringen Volke nicht traue, insonderheit nicht in den stillen Nebengassen und am allerwenigsten jenseits des Flusses,« konnte er sich noch einmal nicht enthalten zu bemerken. Er war ein alter Diener, der ehemals des kleinen Nikolai Hüter gewesen war und ihn auf den Armen getragen hatte, ein ernster, solider Mann, der gern den Gottesdienst besuchte und fromme Bücher las.
»Sei unbesorgt, Alexei Jegorowitsch!«
»Gott segne Sie, gnädiger Herr, bei allen guten Werken.«
»Wie?« fragte Nikolai Wsewolodowitsch und blieb noch einmal stehen, nachdem er schon auf die Gasse hinausgetreten war.
Alexei Jegorowitsch wiederholte seinen Wunsch in festem Tone; nie vorher hätte er es gewagt, diesen Wunsch mit solchen Worten seinem Herrn gegenüber laut auszusprechen.
Nikolai Wsewolodowitsch schloß die Tür zu, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging die Gasse entlang, wo er bei jedem Schritte fünf Zoll tief in den Schmutz sank. Endlich gelangte er in eine lange, menschenleere Straße und auf Pflaster. Die Stadt war ihm so bekannt wie seine fünf Finger; aber die Bogojawlenskaja-Straße war noch sehr fern. Es war schon zehn Uhr durch, als er endlich vor dem verschlossenen Tore des dunklen alten Filippowschen Hauses stehen blieb. Das untere Stockwerk stand jetzt nach dem Wegzuge des Lebjadkinschen Geschwisterpaares ganz leer, und die Fenster waren mit Brettern vernagelt; aber im Halbgeschoß bei Schatow war Licht. Da keine Klingel da war, so schlug er mit der Hand gegen das Tor. Es wurde ein Fenster geöffnet, und Schatow blickte auf die Straße hinaus; es war eine furchtbare Dunkelheit, so daß es schwer hielt, jemanden zu erkennen; Schatow sah lange hin, wohl eine Minute lang.
»Sind Sie es?« fragte er auf einmal.
»Ja, ich bin es,« antwortete der unerwartete Besucher.
Schatow schlug das Fenster zu, kam herunter und schloß das Tor auf. Nikolai Wsewolodowitsch trat über die hohe Schwelle und ging, ohne ein Wort zu sagen, an ihm vorbei geradeswegs nach dem Seitengebäude zu Kirillow hin.
Hier war alles unverschlossen und nicht einmal die Türen angelehnt. Der Flur und die ersten beiden Zimmer waren dunkel; aber aus dem letzten, in welchem Kirillow wohnte und seinen Tee zu trinken pflegte, schimmerte Licht, und es war Gelächter, sowie ein sonderbares Kreischen vernehmbar. Nikolai Wsewolodowitsch ging auf das Licht zu, blieb aber ohne einzutreten auf der Schwelle stehen. Auf dem Tische stand Tee. Mitten im Zimmer stand die alte Frau, die Verwandte des Hauswirtes, mit bloßem Kopf, nur im Unterrock, mit Schuhen auf den bloßen Füßen und mit einer Jacke von Hasenfell. Auf dem Arm hielt sie ein Kind von anderthalb Jahren, im bloßen Hemdchen, mit nackten Beinchen, heißen Bäckchen und weißen, wirren Härchen; es war soeben aus der Wiege genommen. Es hatte offenbar unlängst geweint; denn es standen ihm noch Tränchen in den Augen; aber in diesem Augenblick streckte es die Ärmchen aus, klatschte in die Hände und lachte, wie eben kleine Kinder lachen, so daß es fast wie ein Schluchzen klang. Vor ihm stand Kirillow und warf einen großen roten Gummiball auf den Fußboden; der Ball sprang bis an die Decke hinauf, fiel wieder nieder, und das Kindchen schrie: »Ba, Ba!« Kirillow fing den Ball und gab ihn ihm; das Kindchen warf ihn dann selbst mit seinen ungeschickten Händchen, und Kirillow lief hin und hob ihn wieder auf. Endlich rollte der »Ba« unter einen Schrank. »Ba, Ba!« schrie das Kindchen. Kirillow warf sich auf den Fußboden, streckte sich lang aus und versuchte den »Ba« mit dem Arme unter dem Schranke hervorzuholen. Nikolai Wsewolodowitsch trat ins Zimmer; als das Kind ihn erblickte, drückte es sich an die alte Frau und brach in ein langgezogenes, kindliches Weinen aus; diese trug es sofort hinaus.
»Stawrogin?« sagte Kirillow, indem er sich mit dem Balle in der Hand vom Fußboden erhob; er zeigte sich über den unerwarteten Besuch nicht im geringsten verwundert. »Wollen Sie Tee?«
Er richtete sich vollständig auf.
»Ich nehme ihn sehr gern an, wenn er warm ist,« erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch. »Ich bin ganz durchnäßt.«
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