»Ja, erheben Sie sich doch wenigstens ein bißchen: Sie sehen doch, wie Mama sich anstrengt!«
Der Alte warf einen schnellen Blick auf sie, verstand sofort, was sie wollte, und versuchte sich hastig zu erheben; es wurde aber nichts daraus: er kam vielleicht eine Spanne hoch und fiel wieder auf die Bank zurück.
»Ich kann nicht, Liebe«, antwortete er Lisa gleichsam klagend und sah sie mit einer eignen, ergebnen Demut an.
»Lisa!« schrie nun Tatjana Pawlowna. Makar Iwanowitsch machte mit der größten Kraftanstrengung noch einen Versuch.
»Nehmen Sie Ihren Krückstock, neben Ihnen liegt er, mit dem Krückstock kommen Sie schon hoch!« sagte Lisa noch einmal hart.
»Das ist auch wahr«, sagte der Alte und griff sogleich hastig nach dem Stocke.
»Man muß ihm einfach aufhelfen«, sagte Wersilow und erhob sich; auch der Doktor und Tatjana Pawlowna sprangen auf, aber sie hatten ihm noch nicht beispringen können, als sich Makar Iwanowitsch, der sich aus aller Kraft auf den Stock gestützt hatte, auf einmal erhob und in freudigem Triumphe dastand und um sich blickte:
»Also, nun bin ich doch aufgestanden!« sagte er beinahe stolz und lachte vergnügt. »Ich danke dir auch schön, Liebe; du hast mich zu Verstand gebracht; und ich dachte schon, die lieben Füße gehorchten mir gar nicht mehr . . .«
Aber er blieb nicht lange stehen, er hatte noch nicht ausgesprochen, als plötzlich der Krückstock, auf den er sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers lehnte, auf dem Teppich ausrutschte; und da die »lieben Füße« ihn so gut wie gar nicht unterstützten, stürzte er von seiner ganzen Höhe zu Boden. Das war fast grausig anzusehen, weiß ich noch. Alle schrien auf und stürzten hinzu, um ihn aufzuheben, aber er hatte sich Gott sei Dank nichts getan; er war nur schwer und laut auf beide Knie gestürzt, hatte aber doch vermocht, die rechte Hand vor sich auf den Boden zu stemmen und sich so zu halten. Er wurde aufgehoben und aufs Bett gesetzt. Er war sehr bleich, nicht vor Schrecken, sondern von der Erschütterung. (Der Doktor hatte bei ihm außer allem andern auch ein Herzleiden konstatiert.) Mama war vor Schrecken außer sich. Und auf einmal wendete sich Makar Iwanowitsch, immer noch ganz bleich, mit zitternden Gliedern und gleichsam noch nicht wieder ganz bei Bewußtsein, zu Lisa und sagte mit fast zärtlicher stiller Stimme zu ihr:
»Nein, Liebe, die lieben Füße tragen mich wahrhaftig nicht mehr!«
Ich kann nicht beschreiben, was für einen Eindruck das auf mich machte. Die Sache war die, daß bei diesen Worten des armen Alten nicht die Spur einer Klage oder eines Vorwurfes mitklang; ganz im Gegenteil: man merkte deutlich, daß er von Anfang an wirklich nicht das geringste Bösartige in Lisas Worten gefunden hatte, sondern es statt dessen für ganz gerecht gehalten hatte, daß sie ihn anschrie, das heißt, er fand, diese Zurückweisung hätte er für sein Verschulden reichlich verdient. Das alles wirkte auf Lisa sehr heftig. Als er gestürzt war, war sie wie alle andern aufgesprungen und hatte leichenblaß dagestanden und selbstverständlich Schmerz empfunden, weil sie die Veranlassung zu dem allen war; als sie aber diese Worte hörte, wurde sie plötzlich, fast momentan, glühend rot vor Scham und Reue.
»Jetzt ist's genug!« kommandierte auf einmal Tatjana Pawlowna. »Das kommt nur von dem ewigen Geschwätz! Es ist Zeit, auseinanderzugehen; wozu soll das führen, wenn der Doktor selber mit dem Geschwätz anfängt!«
»Freilich«, stimmte Alexander Semionowitsch ihr zu, der sich um den Kranken zu schaffen machte. »Das war nicht recht von mir, Tatjana Pawlowna, er braucht Ruhe!«
Aber Tatjana Pawlowna hörte nicht auf ihn: sie musterte Lisa wohl eine halbe Minute lang schweigend und verbissen.
»Komm her, Lisa, und gib mir einen Kuß, wenn du Lust hast; ich altes, dummes Frauenzimmer!« sagte sie dann unvermittelt.
Und sie küßte sie, ich weiß nicht weswegen, aber eben das war es, was sich gehörte; ich wäre am liebsten selber auf Tatjana Pawlowna zugestürzt und hätte ihr einen Kuß gegeben. Es war jetzt nicht am Platze, Lisa durch Vorwürfe nur noch tiefer niederzudrücken, sondern es war viel richtiger, das neue, schöne Gefühl, das jetzt sicherlich in ihr geboren wurde, mit Freude zu begrüßen und sie zu beglückwünschen. Aber statt mich allen diesen Gefühlen hinzugeben, sprang ich plötzlich auf und rief, jedes Wort hart betonend:
»Makar Iwanowitsch, Sie haben heute wieder das Wort ›Vornehmheit‹ gebraucht, und ich habe mich gerade gestern und alle die Tage mit diesem Worte abgequält . . . und habe mich überhaupt mein Leben lang damit gequält, ich wußte früher nur nicht, daß es das war. Und dieses Zusammentreffen der gleichen Worte halte ich für einen Wink des Schicksals, fast für ein Wunder . . . Ich erkläre hier in Ihrer Gegenwart . . .«
Aber die anderen taten mir sofort Einhalt. Ich wiederhole es: ich wußte nichts von ihrer Abrede wegen Mama und Makar Iwanowitsch; und sie hielten mich, nach früheren Erfahrungen, natürlich zu jedem Skandal in der Art für fähig.
»Hinaus mit ihm, hinaus!« schrie Tatjana Pawlowna wie ein wildes Tier. Mama zitterte vor Angst. Makar Iwanowitsch sah, daß alle erschraken und erschrak selber auch.
»Arkadij, laß das!« rief Wersilow strenge.
»Mir, meine Herrschaften,« schrie ich noch lauter, »mir erscheint es einfach scheußlich, wenn ich Sie alle neben diesem reinen Kinde ansehe« (ich deutete auf Makar). »Nur eine Heilige sehe ich – das ist Mama, aber selbst sie . . .«
»Sie regen ihn auf!« sagte der Doktor eindringlich.
»Ich weiß, daß die ganze Welt wider mich ist«, stotterte ich (oder etwas Ähnliches), aber blickte noch einmal rundum und sah dann Wersilow herausfordernd an.
»Arkadij!« schrie er noch einmal, »genau so eine Szene hat hier schon einmal stattgefunden. Ich beschwöre dich, nimm dich zusammen!«
Ich kann nicht beschreiben, mit was für einem tiefen Gefühl er das sagte. Eine außerordentliche, aufrichtige, tiefe Traurigkeit sprach aus seinem Gesicht. Das Erstaunlichste war, daß er schuldbewußt dreinschaute: ich war der Richter, und er der Verbrecher. Das alles machte mich vollends toll.
»Ja,« schrie ich zurück, »genau so eine Szene hat schon einmal stattgefunden, als ich Herrn Wersilow begrub und ihn aus meinem Herzen riß . . . Aber später ist darauf eine Auferstehung von den Toten gefolgt, jetzt aber . . . jetzt folgt kein Morgen mehr darauf! Aber . . . aber ihr alle hier werdet noch sehen, wozu ich imstande bin: ihr laßt euch nicht träumen, was ich euch noch beweisen werde!«
Als ich das gesagt hatte, stürzte ich in mein Zimmer. Wersilow eilte mir nach . . .
Ich bekam einen Rückfall; das Fieber brach mit größter Gewalt aus, und in der Nacht phantasierte ich. Es war aber nicht alles bloß Delirium: es waren unzählige Träume, ein ganzer Zug von Träumen, Träume ohne Maßen; und davon ist ein Traum oder das Bruchstück eines Traumes mir auf Lebenszeit im Gedächtnis geblieben. Ich erzähle ihn ohne ein Wort der Erläuterung; er war prophetisch, und ich kann ihn nicht auslassen.
Ich befand mich plötzlich, mit irgendeinem großen und stolzen Plan im Herzen, in einem großen, hohen Zimmer; es war aber nicht bei Tatjana Pawlowna: ich erinnre mich jenes Zimmers sehr deutlich; das sage ich hier vorgreifend. Und ob ich gleich allein bin, fühle ich die ganze Zeit, mit Unruhe und Qual, daß jemand auf mich wartet, und daß man etwas von mir erwartet. Irgendwo hinter der Tür sitzen Leute und warten auf das, was ich tun werde. Ein unerträgliches Gefühl: »Oh, wäre ich doch allein!« Und auf einmal tritt sie herein. Sie schaut schüchtern drein, sie fürchtet sich entsetzlich, sie sucht meinen Blick. In meiner Hand halte ich das Dokument . Sie lächelt, um mich einzufangen, sie will mich durch Schmeichelei gewinnen; mir tut sie leid, aber ich beginne Ekel zu empfinden. Plötzlich bedeckt sie ihr Gesicht mit beiden Händen. Ich schleudre das »Dokument« mit unsäglicher Verachtung auf den Tisch: »Bitten Sie mich nicht! Da! Ich will von Ihnen gar nichts! Ich räche mich für allen Schimpf, der mir angetan ist, durch Verachtung!« Ich verlasse das Zimmer und verschlucke mich fast vor maßlosem Stolz. Aber an der Tür, im Dunkeln, faßt mich Lambert! »Esel, Esel!« wispert er mir mit der höchsten Eindringlichkeit zu und hält mich an der Hand fest, »sie kann einfach auf der Wasilij-Insel ein adliges Fräuleininstitut aufmachen.« (NB. das sollte heißen, daß sie das zu ihrem Unterhalt nötig hätte, wenn ihr Vater durch mich von dem Dokument erführe und sie enterbte und aus dem Hause jagte. Ich schreibe die Worte Lamberts buchstäblich nieder, wie ich sie geträumt habe.)
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