Wenn man allerdings in der Forschung mit Phänomenen konfrontiert ist, in denen zahlreiche Wechselwirkungen und Rückkoppelungen wirksam sind („autopoietische Realität“ nach Schülein & Reitze, 2002), dann wird man kaum ohne Modelle auskommen können, die in stärkerem Ausmaß ganzheitlich orientiert sind. Man muss dabei allerdings nicht unbedingt den geisteswissenschaftlichen Weg mit dem Einsatz qualitativer Untersuchungsmethoden beschreiten (Phänomenologie, Hermeneutik etc.), sondern kann sich unter Verwendung entsprechender Computerprogramme auch einer kybernetischen Analyse psychischer Prozesse bedienen („Kognitive Modellierung“; PSI-Programm, Dörner, 1999; ACTModell, Anderson & Lebiere, 1998; Sun, 2009).
Statik – Dynamik |
| 2.3.10 |
Merksatz
Phänomene der Psychologie lassen sich sowohl hinsichtlich ihrer Merkmalsstruktur als auch hinsichtlich ihrer Merkmalsdynamik untersuchen.
Grundsätzlich können sich Gesetzmäßigkeiten auf strukturelle Zusammenhänge oder auf zeitliche Abläufe beziehen. Deshalb können auch psychologische Phänomene auf zweierlei Art analysiert werden: Einerseits lassen sich darüber Informationen an verschiedenen Sachverhalten sammeln (wie z.B. durch einmalige Vorgabe eines Intelligenztests bei verschiedenen Personen) und andererseits an einzelnen Sachverhalten mehrmals zu verschiedenen Zeiten (wie z.B. bei der kontinuierlichen Ableitung von Gehirnströmen im Schlaf einzelner Personen). Im ersten Fall – bei Querschnittanalysen – erfährt man Näheres über das gesetzmäßige Nebeneinander der Merkmale von Phänomenen (z.B. über die Struktur von Intelligenzmerkmalen), während im zweiten Fall – bei Längsschnittanalysen – mehr das gesetzmäßige Nacheinander der Zustände von Phänomenen zu erforschen ist (z.B. die Aufeinanderfolge von Schlafphasen oder Entwicklungsstadien).
2.3.11 | |
Quantitativ – qualitativ |
Auch die Kontroverse zwischen den Befürworterinnen und Befürwortern einer quantitativen Erfassung von psychischen Phänomenen einerseits und jenen einer qualitativen, d.h. in diesem Zusammenhang einer nicht auf Quantitäten basierenden Erfassung andererseits, lässt sich in der Psychologie über mindestens hundert Jahre zurückverfolgen. Sie mündet in der Grundsatzfrage, ob sich psychische Phänomene überhaupt quantifizieren oder nur sprachlich beschreiben lassen. Dass in bestimmten Bereichen, wie etwa der Wahrnehmung, eine Quantifizierung gelingt, hat bereits Fechner (1860) mit seinen Ergebnissen zur „Psychophysik“ bewiesen. In welchem Ausmaß aber auch komplexe kognitive Prozesse quantifizierbar sind, ist immer noch Gegenstand von Forschungen. Eine moderne Variante des Quantifizierungsansatzes sind mathematische Modelle zur Simulation psychischer Abläufe („kognitive Modellierung“, engl. cognitive modeling), die in Bereichen der Kognitiven Psychologie etwa bei Denk-, Urteils- oder Handlungsmodellen erprobt werden (z.B. ACT-R-Modell von Anderson, Matessa & Lebiere, 1997; Sun, 2009; Farrell & Lewandowsky, 2019).
Die Vorteile qualitativer Erhebungsmethoden (z.B. durch sprachliche Schilderungen, Fotos, Videos) sind vor allem in folgenden Punkten zu sehen:
• Sie verfremden die Befragungssituation weniger (als z.B. eine Laborsituation).
• Die Beobachtungen können uneingeschränkt gewonnen werden (z.B. ohne vorgegebene Antwortmöglichkeiten).
• Die Interaktionen zwischen Forschenden und beforschten Personen werden explizit gemacht.
• Die subjektiven Eindrücke der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden in die Auswertung miteinbezogen.
Es handelt sich hier um eine hermeneutische, d.h. sinn- und kontextbezogene, „verstehende“ Art der Interpretation von Daten. Als Nachteile qualitativer Methoden werden ein Mangel an Vergleichbarkeit mit anderen einschlägigen Untersuchungen, eine geringere Generalisierbarkeit der Ergebnisse und ein Mangel an Objektivität angeführt, d.h. eine geringere Übereinstimmung von Interpretationen gleicher Daten durch verschiedene Forscherinnen und Forscher (s. Flick et al., 1995; Döring & Bortz, 2016). Eine pointierte Gegenüberstellung von Merkmalen quantitativer und qualitativer Methoden gibt Lamneck (1995), ein prononcierter Vertreter qualitativer Auswertungsverfahren.
Merksatz
Der Gegensatz zwischen „quantitativer“ und „qualitativer“ Forschung dürfte sich im Sinne einer komplementären, einander ergänzenden Anwendung beider Ansätze immer mehr auflösen.
Ähnlich wie Karl Bühler vor etwa achtzig Jahren eine methodische Integration für die Psychologie vorgeschlagen hat, empfehlen nun auch Bortz und Döring (1995, 281) – ein Autor und eine Autorin, die den quantitativen Methoden verpflichtet sind – in ihrem weithin beachteten Werk „Forschungsmethoden und Evaluation“ eine Zusammenführung quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden. Nicht nur seien diese im Sinne eines interdisziplinären Arbeitens parallel einzusetzen, sondern es sollten auch Erhebungs- und Auswertungstechniken entwickelt werden, „die qualitative und quantitative Operationen vereinigen“. Die vermehrte Nutzung von Computern und elektronischen Arbeitsmitteln in der Forschung fördert in der Tat nicht nur den Einsatz mathematisch-statistischer Verfahren (z.B. statistischer Programmpakete), sondern eröffnet auch für die Weiterentwicklung qualitativer Verfahren große Chancen (Beispiele für qualitativ orientierte Auswertungsprogramme: ATLAS.ti, RQDA, MAXQDA, QDA Miner).
2.4 | |
Gegenwärtige Forschungsorientierungen der Psychologie |
Innerhalb von Wissenschaften existieren zumeist unterschiedliche Grundkonzepte (wissenschaftliche Paradigmen) darüber, welche Forschungsfragen aufgegriffen, welche wissenschaftlichen Instrumente für Untersuchungen herangezogen und welche Erklärungsmodelle bevorzugt werden. Die häufigsten in der Fachliteratur genannten derartigen Forschungsperspektiven sind folgende:
Biologische Perspektive: Bei dieser Forschungsausrichtung werden psychologische Phänomene hauptsächlich durch die Funktionsweise der Gene, des Gehirns, des Nervensystems oder anderer biologischer Systeme erklärt.
Merksatz
Die Erforschung eines psychischen Phänomens kann aus verschiedenen Perspektiven erfolgen, die sich hinsichtlich der theoretischen Annahmen, der verwendeten Untersuchungsmethoden und der bevorzugten Erklärungsmodelle unterscheiden.
Psychodynamische Perspektive: Ein Erklärungsansatz, bei dem psychische Prozesse auf die Verarbeitung vergangener Erfahrungen (z.B. Kindheitserlebnisse, Elternbeziehungen), auf teils unbewusste motivationale Kräfte (Triebe) oder auf die Anpassung an soziale Zwänge (Kultur) zurückgeführt werden.
Behavioristische Perspektive: Ein auf das „objektiv“ beobachtbare Verhalten (amerikan.: „behavior“) des Menschen (und von Tieren) ausgerichteter Ansatz, bei dem die gesetzmäßige Aufklärung von Reiz-Reaktions-Beziehungen im Vordergrund steht und der auf Aussagen über „innere“ – bewusste oder unbewusste – Prozesse verzichtet.
Humanistische Perspektive: Eine Strömung, welche den Menschen als freies und aktives Wesen interpretiert, das sich von selbst entwickelt, wenn man sich ihm nur wertschätzend, empathisch, ehrlich und „non-direktiv“ zuwendet („Selbstaktualisierung“).
Kognitive Perspektive: Hier sind Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen, Denken, Problemlösen, Emotion und Motivation als informationsverarbeitende Prozesse gesetzmäßig zu beschreiben („Computer-Metapher“).
Evolutionäre Perspektive: Die Struktur der Psyche sowie ihre Dynamik werden als Resultat der evolutionsgeschichtlichen Entwicklung des Menschen betrachtet, bei der das Verhaltensrepertoire (z.B. Erbkoordinationen, Ritualisierungen) durch Selektion und Mutation an die jeweiligen (frühmenschlichen) Umweltbedingungen angepasst und genetisch weitergegeben wurde.
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