„Erbe ich dann deine Polizei-Uniform?“
Papa lacht. „Die gehört mir ja nicht. Die muss ich wieder abgeben, wenn ich kein Polizist mehr bin.“
„Und du, Opa?“ Lasse tippt von hinten Opa an, der direkt vor ihm hergeht. „Hast du ein Testament geschrieben?“
„Ja, das habe ich.“
„Und was steht da drin? Bekomme ich auch etwas?“
Opa dreht sich kurz zu Lasse nach hinten und macht ein wichtiges Gesicht. „Das Testament ist geheim. Es wird erst verlesen, wenn ich gestorben bin.“
„Wann stirbst du?“
Mama drückt Lasses Hand fester und schaut ihn streng an. „Lasse, bitte! Willst du etwa, dass Opa stirbt?“
„Nein, natürlich nicht. Aber ich will wissen, was in seinem Testament steht!“
Margret, die neben Opa geht, blinzelt ihn an: „Ja, das will ich auch wissen. Da gäbe es so einiges, von dem ich hoffe, dass du an mich gedacht hast.“
„So weit kommt es noch“, beschwert sich Opa, „dass ich hier auf offener Straße erzähle, wer von euch was bekommt!“ Er macht eine Kopfbewegung auf Margret zu. „Wenn ich mal unter der Erde bin, dann könnt ihr euch ohne mich um meinen Besitz streiten.“
Margret zieht eine Schnute, als sei sie beleidigt, aber sie grinst dabei. „Ach, Heinrich, wir streiten doch nicht.“
Lasse hört schon nicht mehr zu, sondern geht jetzt wieder neben mir. „Ich vererbe dir meine Eisenbahn. Ja? Aber du musst gut darauf aufpassen. Und meinen Agenten-Geheim-Block, den ich mir ganz neu gekauft habe. Und meine Biene-Maja-DVD-Box.“
„Deine Biene-Maja-DVDs kannst du behalten“, kommt es spontan von mir zurück.
„Wenn ich gestorben bin, dann brauche ich sie ja nicht mehr.“
„Du spinnst ja wohl!“ Ich schüttle den Kopf über diese verrückten Gedanken von meinem Bruder. „Wann hattest du denn vor zu sterben?“
„Das weiß ich nicht. Aber man kann ja nie wissen. Vielleicht werde ich mal bei einem unserer Agentenfälle von einem Verbrecher ermordet!“
„Du spinnst echt! Du stirbst nicht! Und damit Schluss!“ Ich habe wirklich keine Lust, mir jetzt schon auszumalen, wie das wäre, wenn Lasse einmal stirbt. Lasse soll nicht sterben. Und er soll auch nicht darüber reden. Ich merke, wie allein der Gedanke daran mir einen Stich in den Bauch versetzt. Genau genommen soll niemand von denen, die ich liebe, sterben. Auch Oma und Opa nicht. Ich weiß noch, wie vor ein paar Jahren Oma Mechthild gestorben ist, die Mama von Mama. Das war furchtbar. Mama hat tagelang nur geheult. Und ich war auch völlig fertig. So was brauche ich nicht noch mal.
4
„Wir sind da“, sagt Nina endlich und zeigt nach vorne.
Das Haus, auf das wir zugehen, liegt hinter einem gepflasterten Hof und einem winzigen Vorgarten beinahe direkt an der Straße. Es ist alt, groß, weiß verputzt und hat von außen gesehen mindestens zwei Stockwerke. Einige große Dachfenster lassen darauf schließen, dass auch der Dachboden weitere ausgebaute Zimmer hat. Seitlich vom Haus ist ein Garten zu sehen, in dem verschiedene Gemüsesorten wachsen. Außerdem eine große Wiese mit zwei Obstbäumen, die sich bis weit hinter das Haus erstreckt. Der Rand der Wiese zur Straße und zu den Nachbarn hin ist mit Sträuchern und Büschen bepflanzt. Auf dem Hof vor dem Haus könnten mindestens zwei Autos nebeneinander parken. Im Moment steht aber nur eins darauf. Ein dicker silberner VW Geländewagen, dessen Fahrertür sich sofort öffnet, als wir den Hof betreten. Ein Mann um die 50 steigt aus. Er hat kurz geschorene Haare, einen langen braunen Bart wie ein Wikinger und trägt eine braune Lederjacke mit einem Pelzkragen.
„Guten Abend“, beginnt er sofort, „mein Name ist Josef Dumpferl. Ich bin der Hausverwalter.“ Er gibt einem nach dem anderen die Hand, auch uns Kindern. „Schön, dass Sie es sich einrichten konnten zu kommen. Das Haus ist in einem guten Zustand. Aber wie Sie sich denken können, hat sich bei Menschen in einem gewissen Alter eine Menge Zeug angesammelt. Das müsste mal geordnet und sortiert werden. Einige Möbel könnten sich beim Verkauf als sehr wertvoll herausstellen. Aber das können Sie sich ja in Ruhe anschauen.“
„Gibt es denn ein Testament?“, fragt Margret geradewegs heraus.
„Bei den Ämtern ist nichts hinterlegt“, antwortet Herr Dumpferl. „Aber es würde mich nicht wundern, wenn Herr Ohl noch zu Lebzeiten eins verfasst hätte. Wenn, dann müsste es irgendwo im Haus zu finden sein. Aber Sie werden verstehen, dass ich es nicht gewagt habe, in den privaten Unterlagen von Herrn und Frau Ohl zu wühlen. Das überlasse ich Ihnen als den nächsten Angehörigen.“
Er holt einen Schlüsselbund aus seiner Tasche und geht die wenigen Stufen zur Haustür nach oben.
Wir anderen folgen ihm.
Die Haustür führt zunächst in einen winzigen Vorraum, der offensichtlich nachträglich an das Haus angebaut wurde. Durch eine weitere Tür kommt man in den eigentlichen Hausflur. Er ist groß. Drei Türen gehen in weitere Zimmer ab. Direkt links neben der Flurtür führt eine riesige Marmortreppe in den ersten Stock. An der Wand hängt etwas wie ein Bild, das aber mit einem Tuch zugehängt ist. Daneben ein großes Holzkreuz. Auf einem kleinen Schränkchen stehen mehrere abgebrannte Kerzen. Es riecht nach blank geputztem Holzboden und alten Möbeln, aber auch nach Kerzenqualm und irgendwie merkwürdig, wie nach verbrannten Kräutern. Nina hebt vorsichtig den Stoff über dem Bild an der Wand hoch. Ich kann erkennen, dass darunter ein Spiegel hängt.
Herr Dumpferl betritt durch die Tür auf der rechten Seite den ersten Raum. Alle gehen ihm hinterher und befinden sich in einem großen Wohnzimmer. Mir fallen sofort die vielen Kerzen auf, die auch hier überall herumstehen: auf den Tischen, auf kleinen Regalen, sogar auf dem Kaminsims. Die meisten sind bis fast nach unten abgebrannt. Einige stecken in alten Kerzenleuchtern, die irgendwie unheimlich wirken. Neben ein paar alten Fotos hängen gleich mehrere schwarze Kreuze an den Wänden.
„Die gute Stube“, nennt Herr Dumpferl das und zeigt mit der offenen Hand durch den Raum.
Alle nicken. Margret fährt mit dem Zeigefinger über eine Nische im Wohnzimmerschrank und schaut sich anschließend ihren Finger an, ob er staubig geworden ist. Dann nickt sie noch mal. „Schön.“
Herr Dumpferl drängt sich an der Besichtigungsgesellschaft vorbei zur Tür heraus, geht durch den Flur in das nächste Zimmer, das genau gegenüber vom Eingang liegt. Wieder latschen ihm alle hinterher. Jetzt sind wir eindeutig in der Küche. Kühlschrank, Herd, Spüle, Hängeschränke – alles wie in einer normalen Küche, nur eben sehr alt. Auf der langen, dunklen Arbeitsfläche neben dem Kühlschrank stapeln sich alte Zeitschriften und Kataloge, Tablettenschachteln, Backbücher, einzelne Zettel, Fotos, Blöcke, Stifte, leere Obstschalen, jede Menge Kleinkram und wieder: Kerzen, Kerzenleuchter, Kerzenschalen. An den Wänden: Kreuze. Über der Eckbank hängt das Farbfoto von einem alten Mann in einer Uniform.
„Die Küche“, fasst Herr Dumpferl das alles zusammen. „Bis vor einem Jahr hat Gertrud, also Frau Ohl, hier noch selbst gekocht.“ Wieder nicken alle. Aber keiner sagt: „Schön.“ Mama pustet sich die Haare aus der Stirn und schaut Papa kritisch an.
„Ich finde das unheimlich hier“, flüstert Ronja ihrer Mutter zu.
Nina sieht sie nur streng an und zischt: „Sei still.“
Herr Dumpferl verlässt die Küche und beginnt die Treppe nach oben zu gehen.
„Was ist das für ein Zimmer?“, fragt Margret und zeigt auf die dritte Tür, die neben der Marmortreppe.
„Da geht es in den Keller“, antwortet Herr Dumpferl.
Margret zieht an dem Türgriff. Die Tür geht nicht auf.
„Man muss feste ziehen“, sagt Herr Dumpferl.
Margret zieht kräftiger. Nichts passiert.
Papa geht zu ihr und rüttelt mit beiden Händen am Türgriff. „Die ist abgeschlossen.“
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