„Ach so. Ja. Klar.“ Ich schaue aus dem Fenster.
„Na gut, ich verrate es dir“, schiebt Lasse hinterher. „Ich habe die Wörter einfach rückwärts geschrieben.“ Wieder hält er mir den Block hin. „Ben heißt rückwärts NEB. Und Lasse heißt rückwärts ASSEL.“
„Da stimmt aber was nicht. Lasse heißt rückwärts ESSAL.“
„Ach so.“ Er schaut sich seine Buchstaben genauer an. „Mensch, dann ist es ja noch geheimer als geheim! Es ist rückwärts geschrieben und dann auch noch die Buchstaben vertauscht! Da kommt kein Mensch drauf!“
„Nee. Wirklich nicht. Du bist echt der Geheimschriften-Meister.“ Ich schaue wieder zum Fenster raus.
„Ja, findest du? Prima! Ich muss ja auch ein Geheimschriften-Meister sein. Denn wir sind doch die Meister-Agenten!“
„Das stimmt. Hätte ich fast vergessen.“
Lasse beugt sich nach vorne: „Opa, wusstest du, dass Ben und ich Meister-Agenten sind?“
Opa lacht. „Ja, ich glaube, das hast du schon das eine oder andere Mal erzählt.“
„Wenn wir groß sind, werden wir Polizisten!“, erklärt Lasse. „Wie Papa. Was, Papa?“
„Davon bin ich überzeugt“, grinst Papa.
Auch wenn das aus dem Mund meines kleinen Bruders etwas lächerlich klingt, hat er doch recht. Für uns beide steht unser Berufswunsch jetzt schon fest. Wir werden Polizisten. So wie Papa. Also – ich zumindest. Ob Lasse so ein guter Polizist wird, bezweifle ich. Und mit sechs Jahren kann man das auch noch nicht wirklich wissen. Da will man ja alle zwei Wochen etwas anderes werden. Aber ich bin immerhin schon elf Jahre alt und gehe in die fünfte Klasse. Da muss man sich schon Gedanken um die Zukunft machen. Und weil Papa ein richtig guter Polizist ist, will ich das auch werden. Ich habe schon hier und da mitgeholfen, Schmuggler oder andere Ganoven zu fangen. Um Weihnachten herum, als ich zum ersten Mal Papa bei einem Fall geholfen habe, habe ich mir sogar eine Anstecknadel gebastelt mit der Aufschrift: „Agent Benjamin Baumann“. Und weil Lasse mir ein bisschen bei der Aufklärung geholfen hat, habe ich ihm zu Weihnachten auch einen Anstecker geschenkt. Darauf steht: „Agent Lasse Baumann“. Er ist aus Goldpapier ausgeschnitten und hinten mit einer Sicherheitsnadel beklebt. Sieht etwas peinlich aus, aber Lasse liebt seine Agentennadel. Seitdem jedenfalls bin ich Agent. Geheimagent natürlich. Denn andere müssen das nicht wissen, sonst machen sie sich nur lustig. Lasse dagegen muss allen auf die Nase binden, dass er ein Agent ist, und gleich darauf seine Agentennadel herumzeigen.
„In einer Stunde sind wir da“, kündigt Papa jetzt an.
„Das ist gut“, erwidert Opa. „Können wir trotzdem noch mal bei der nächsten Raststätte anhalten? Ich glaube, ich muss mal aufs Klo.“
2
Das Dorf, in dem Tante Gertrud gewohnt hat, heißt Fremding. Wir halten an der Hauptstraße vor einem großen Haus, das gar nicht so alt aussieht.
„So, alles aussteigen!“, weist Papa an.
„Das soll ein altes Haus sein, in dem ein Schatz versteckt ist?“, blökt Lasse, während er vom Rücksitz rutscht.
„Nein“, sagt Mama. „Das ist unsere Pension. Hier werden wir schlafen.“
„Schlafen wir gar nicht in dem Haus von der alten Tante?“
„Nein.“ Mama grinst, öffnet den Kofferraum und holt eine Reisetasche heraus. „Wir wissen ja gar nicht, in welchem Zustand das Haus ist. Und da möchte ich, ehrlich gesagt, nicht übernachten.“
„Ich hätte das cool gefunden“, sagt Lasse.
Mama wuschelt Lasse mit der Hand über den Kopf. „Das kann ich mir denken.“
Aus der Pension kommt eine Frau mit schulterlangen schwarzen Haaren, die an einigen Stellen schon etwas grau sind. Sie ist ungefähr so alt wie Mama und Papa. „Da seid ihr ja endlich“, beginnt sie ohne weitere Begrüßung. „Wir warten schon seit Stunden!“
Papa zieht einen Koffer aus dem Auto und schlägt den Kofferraumdeckel zu. „Wir haben auch eine weitere Anreise als ihr und wir mussten hier und da eine Rast einlegen.“
„Na ja, jetzt seid ihr ja da.“ Sie gibt Opa einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Hallo, Onkel Heinrich. Ich hab schon mit Herrn Dumpferl gesprochen. Der ist jederzeit bereit, uns ins Haus zu lassen. Wir müssen ihm nur Bescheid sagen, wenn wir so weit sind.“
„Dürfen wir vielleicht erst mal ankommen?“, fragt Papa gereizt.
„Na klar. Kommt rein. Ich hab für euch schon mal die Zimmerschlüssel besorgt. Ihr habt Zimmer 14, das ist im oberen Stockwerk. Es ist eigentlich nur ein Doppelzimmer, aber sie haben zwei Kinderbetten reingeschoben.“ Jetzt entdeckt sie mich und kommt auf mich zu. Ich habe gerade meinen Rucksack vom Rücksitz geholt. „Ach du meine Güte, bist du groß geworden. Du bist Benjamin, richtig?“ Sie streckt ihre Hand aus, aber nicht, um mir die Hand zu schütteln, sondern um mir über den Kopf zu wuscheln. Schnell ziehe ich meinen Kopf nach hinten. Ich habe meine Haare lange vor dem Spiegel gestylt. Die darf man nicht zerstrubbeln. Die Frau merkt das und zieht ihre Hand wieder zurück. „Oh, Junge, Junge. Einen eigenen Kopf hast du auch schon, was? Mann, ist das lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. War das auf Onkel Heinrichs 70. Geburtstag? Da warst du doch noch ein ganz kleiner Junge. Dann bist du ja jetzt bestimmt schon neun oder zehn.“
„Ich bin elf.“
„Was? Also, wie die Zeit vergeht!“ Sie dreht sich zur Seite und tätschelt Lasses Wange. „Ach, dann bist du der kleine Lars. Ja?“
„Ich heiße Lasse.“
„Ach, ja, richtig. Lasse. Und wie alt bist du? Nicht dass ich schon wieder daneben liege.“
„Ich bin sechs! Und ich gehe schon in die erste Klasse!“
„Was, du gehst schon zur Schule? Kinder, wie die Zeit vergeht!“ Sie kichert albern. Dann dreht sie sich Mama und Papa zu und gibt ihnen einen unsichtbaren Kuss neben die Wange. „Hallo Jan, hallo Julia. Hattet ihr eine gute Fahrt?“
„Es ging so“, antwortet Mama. Ich sehe ihr an, dass sie jetzt schon von der Frau genervt ist.
„Na ja, kommt erst mal rein. Ich hab mir erlaubt, in eurem Zimmer mal die Fenster aufzureißen. Da hat es ziemlich gestunken.“
„Danke“, knurrt Mama und quetscht sich an der Frau vorbei, die sich im Türrahmen so breitmacht, als wollte sie die Tür bewachen.
Als ich an ihr vorbei will, grinst sie mich an und versucht, mir schon wieder mit der Hand durch die Haare zu fahren. Wieder ziehe ich meinen Kopf zur Seite. „Du weißt ja sicher noch, wer ich bin, oder?“ Sie zieht ihre Augenbrauen hoch, als hätte sie mir eine lustige Quizfrage gestellt.
Nein, ich weiß nicht mehr, wer sie ist. Aber ich habe auch keine Lust auf Ratespiele. Wie ein dummer Schuljunge brumme ich nur: „Ähm, nein …“
„Nicht?“ Sie beugt sich etwas zu mir herab. „Ich bin Nina, die große Cousine von deinem Papa.“ Sie kichert. „Also, eigentlich bin ich nur ein Jahr älter. Aber ich sag immer, ich bin die große Cousine.“
Ich nicke und versuche zu lächeln. Die Frau redet mir etwas zu viel. Endlich gelingt es mir, mich mitsamt meinem Rucksack an ihr vorbeizudrücken und ich gelange in den schmalen Flur dieser Pension. Es riecht nach gekochtem Essen und Schweißfüßen. Am Ende des Flurs kommt eine ältere Frau eine Treppe herunter. Sie ist sehr dünn, hat kurze graue Haare, trägt Wollpullover, Jeanshose und Turnschuhe, als sei sie eine Jugendliche. „Da seid ihr ja endlich“, begrüßt sie Mama und Papa, die gerade die erste Stufe der Treppe genommen haben. „Wir warten schon seit Stunden!“
„Hallo, Tante Margret“, sagt Papa ohne Begeisterung. „Wir hatten Vater im Auto und der musste im Fünf-Minuten-Takt aufs Klo.“
„Ach, mein Bruderherz,“ Margret geht geradewegs auf Opa zu, der noch unten im Flur steht, „ist es noch nicht besser geworden?“ Sofort wendet sie sich mir zu. „Meine Güte, bist du groß geworden. Bist du der kleine Lars? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch so klein.“ Sie zeigt mit der Hand einen halben Meter über dem Boden an.
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