„Ich heiße Ben“, sage ich zerknirscht. „Und mein Bruder heißt Lasse.“
„Meine Güte, wie die Zeit vergeht.“ Sie sieht Lasse und schlägt ihre Hände vor der Brust zusammen. „Was, und du bist der kleine Bruder von dem großen Jungen? Warst du nicht erst neulich noch ein Baby?“
„Das ist lange her, dass ich ein Baby war.“ Lasse lässt sich seine gute Laune nicht nehmen. „Jetzt bin ich sechs und schon im ersten Schuljahr.“
Wieder klatscht die alte Dame einmal in die Hände. „Ach, du gehst schon in die Schule?“ Sie dreht sich zu mir um. „Dann gehst du sicher auch schon zur Schule.“
„Ich bin im fünften Schuljahr.“
„Meine Güte, wie die Zeit vergeht! Dann bist du ja schon ein kleiner Teenager!“
„Ich bin elf.“
„Wie unsre Carlotta, was?“
Nina ruft von der Haustür her: „Carlotta ist 13, Mama! Ronja ist elf!“
„Ach, ist ja richtig. Da kommt man auch schon mal durcheinander bei den vielen Enkelkindern.“
Mama und Papa gehen die Treppe nach oben. Ich folge ihnen. Irgendwie sind mir das eindeutig zu viele Leute hier im Flur. Und alle scheinen sich irgendwie zu kennen und miteinander verwandt zu sein. Was wollen die alle hier?
Plötzlich höre ich ein Getrampel und Getöse, als würde oben eine Herde Elefanten über den Flur laufen. Drei Kinder kommen mit lautem Gepolter die Treppe nach unten gerannt. „Da sind sie!“, ruft das eine von ihnen. Sie bleiben vor mir stehen, als erwarteten sie von mir eine Begrüßung. Ich bin aber noch so erschlagen von den vielen Leuten, dass mir die Worte fehlen. Die Erste von den dreien, die direkt vor mir stehen geblieben ist, könnte in meinem Alter sein. Sie hat lange Haare und trägt eine Brille. Das Kind direkt hinter ihr ist etwas jünger. Es hat blonde, kinnlange Haare und auf der einen Seite einen Ohrring. Trotzdem glaube ich, dass es ein Junge ist. Und noch eine Stufe weiter oben steht ein Mädchen, das auf jeden Fall älter ist als ich. Es ist im Gesicht geschminkt und mir fallen sofort die lackierten Fingernägel auf. „Du bist Benjamin!“, plärrt die Erste mich an, als wüsste ich nicht selbst, wie ich heiße.
„Ja.“ Mehr krieg ich nicht raus.
„Dann bist du Lars“, ruft sie Lasse zu.
Lasse scheint das lustig zu finden. Er kichert laut los. „Ich heiße Lasse. Und zu meinem Bruder könnt ihr Ben sagen.“
„Ben!“, sagt die Erste und grinst breit.
„Hallo Ben!“, kommt es von dem Blonden. „Ich bin Finn!“
„Ich bin Ronja!“, teilt die mit, die mir am nächsten steht.
„Und ich bin Carlotta“, haucht die Ältere und klimpert mit den Augen.
„Aha.“ Muss ich mir diese ganzen Namen merken? Die drei werden jetzt nicht die nächsten Tage pausenlos um uns herumspringen, oder?
„Hallo Carlotta!“, höre ich auch schon meinen Bruder von unten. „Wie alt bist du? Du hast dich ja schon im Gesicht angemalt!“
Die zwei Jüngeren auf der Treppe prusten los und spucken sich dabei in die Hände vor Lachen.
„Ich bin 13“, sagt Carlotta. „Und ihr?“ Sie schaut mich an. „Lass mich raten. Du bist zehn.“
„Ich bin elf.“
„Ich auch!“, schreit Ronja, als hätte sie gerade einen Preis gewonnen, und hopst auf der Treppenstufe.
„Ich bin neun“, sagt Finn, „aber im Sommer werde ich zehn.“
„Ich bin sechs“, ergänzt Lasse, „aber nach den Sommerferien werde ich sieben!“
„Sollen wir was spielen?“, fragt Finn fröhlich.
„Au ja!“, ruft Lasse. „Mama, darf ich?“
„Ja“, ruft Mama von oben, „aber bleibt in der Nähe. Wir wollen bestimmt gleich was essen.“
Finn donnert die Treppe nach unten zu Lasse. Ronja hinterher. „Kommst du auch mit, Ben?“
„Ich bringe erst mal meine Sachen ins Zimmer“, murmle ich leise und gehe nach oben.
Carlotta klimpert mit den Augen und stakst mit einem leichten Hüftschwung die Treppe nach unten. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich jetzt schon keine Lust mehr auf dieses Wochenende.
3
Nach dem Abendessen gehen wir alle miteinander zu dem Haus der verstorbenen Tante Gertrud. Es befindet sich im selben Dorf, in dem auch unsere Pension ist. Aber wir müssen mindestens eine Viertelstunde laufen. „Laufen tut uns allen gut“, hat Nina beschlossen, und keiner hat ihr widersprochen.
Opa und Margret, die alte Frau mit der Jeanshose, gehen mit Nina voraus. Dahinter Mama und Papa, dann Lasse und ich und dahinter Carlotta, Ronja und Finn, die sich unentwegt in die Seite stoßen und sich beschimpfen, wer hier wen vom Gehweg schubst oder wem mit den Schuhen in die Hacken läuft oder aus anderen Gründen einfach doof ist.
Inzwischen habe ich die verwandtschaftlichen Zusammenhänge so halbwegs verstanden. Margret ist die Schwester von Opa Heinrich. Die Mutter von den beiden war die Schwester von der verstorbenen Hausbesitzerin Gertrud Ohl. Also war Gertrud Ohl die Tante von Opa und Margret. Nina ist die Tochter von Margret. Carlotta, Ronja und Finn sind die Kinder von Nina und damit die Enkel von Margret.
„Haben Hubert und Gertrud eigentlich ein Testament gemacht?“, höre ich Margret an Opa gerichtet fragen.
„Das werden wir ja gleich erfahren“, gibt der kurz angebunden zurück.
„Mama, was ist ein Testament?“, fragt Lasse, drängt sich dabei zwischen Mama und Papa und nimmt Mamas Hand.
Mama überlegt kurz, dann erklärt sie: „Also. Wenn jemand stirbt, dann gibt es Gesetze, die festlegen, wer all das bekommt, was der Verstorbene besessen hat. Wenn einer verheiratet war und Kinder hatte, geht der ganze Besitz an den Ehepartner und die Kinder über. Man nennt das ‚erben‘. Die Kinder und die Ehefrau erben den Besitz, wenn der Vater stirbt. Wenn es keine Kinder und keinen Ehepartner gibt, erben die Eltern oder Geschwister des Toten. Wenn die nicht mehr leben, wie hier bei Frau Ohl, dann erben die nächsten Verwandten. Das sind in diesem Fall die Kinder der Schwester. Also Opa und Tante Margret. Sie bekommen zu gleichen Teilen das Geld, das Haus und was immer die Verstorbene besessen hat.“
„Aha“, quakt Lasse, als hätte er das kapiert. Ich wette, der hat kein Wort verstanden. Das klingt ja selbst für jemanden wie mich ziemlich kompliziert.
Mama fährt fort: „Wenn aber jemand möchte, dass sein Besitz anders verteilt wird, als es im Gesetz geregelt ist, dann verfasst er ein ‚Testament‘. Das bedeutet, er schreibt genau auf, wer nach seinem Tod was bekommen soll. Da steht dann zum Beispiel: ‚Mein Haus vererbe ich meinen Kindern, das Auto bekommt der Onkel, das Geld soll unter meinen Nichten und Neffen aufgeteilt werden.‘ Und so weiter. Oder er legt fest, dass bestimmte Leute nichts bekommen sollen, die normalerweise etwas erben würden. Zum Beispiel: ‚Ich bestimme, dass mein ungezogener Sohn nichts erbt. Dafür soll meine Cousine das wertvolle Geschirr aus dem Wohnzimmerschrank bekommen.‘ Das alles steht in dem sogenannten ‚Testament‘. Wenn es kein Testament gibt, dann wird der Besitz so aufgeteilt, wie ich es eben aufgezählt habe. So ist es im Gesetz festgelegt.“
„Und wer erbt meinen Besitz, wenn ich mal gestorben bin?“, bohrt Lasse weiter.
„Deinen?“ Mama lacht. „Welchen Besitz meinst du denn?“
„Meine Holzeisenbahn zum Beispiel. Oder die Playmobil-Sammlung.“
Mama schmunzelt vergnügt. „Solange du noch nicht verheiratet bist und keine Kinder hast, erben wir Eltern deine Holzeisenbahn.“
Lasse kichert. „Was wollt ihr denn damit anfangen? Die soll lieber Ben bekommen!“
„Dann solltest du mal ein Testament schreiben und das festlegen.“
„Das mach ich auch!“ Lasse wendet sich an Papa: „Papa, hast du ein Testament geschrieben?“
„Nein.“ Papa schaut Mama an. „Aber das sollten wir unbedingt mal tun. Man weiß ja nie, wie schnell einem etwas zustößt.“
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